Der Nutzen der Schweizer Teilnahme im europäischen Projekt epSOS

Original article

Published on 27.09.2013

Zusammenfassung

epSOS (Smart Open Services for European Patients) [1] wurde im Juli 2008 lanciert und ist ein Europa-weites Projekt, das von Vertretern aus verschiedenen Ländern organisiert wird. Das Hauptziel von epSOS liegt in der Entwicklung und praktischen Umsetzung eines eHealth-Rahmenkonzepts und einer Informations- und Kommunikationstechnologie-Infrastruktur für Europa. Die Schweiz macht mit dem Kanton Genf bzw. dem Universitätsspital Genf in epSOS mit. Jedes epSOS-Teilnehmerland musste für den transnationalen Datenaustausch einen National Contact Point (NCP) im Sinne eines nationalen Gateways aufbauen. Die gesicherte Verbindung zwischen den verschiedenen nationalen NCPs bildet die Grundlage für den epSOS-Vertrauensraum.
In epSOS stellten sich zu Projektbeginn eine Vielzahl von Fragestellungen rechtlicher, politischer, organisatorischer und technischer Natur, die ihren Grund in der Heterogenität der Gesundheitssysteme der EU-Länder finden. Zudem ist die Gesundheitsversorgung nicht Bestandteil des EU-Vertragswerks. In diesem Sinne ist die europäische Ausgangslage mit der Schweizerischen vergleichbar: Zum Einen ist auf beiden Ebenen keine einheitliche Rechtsgrundlage vorhanden. Zum Anderen ist die EU analog zur Schweiz ein föderales Gebilde, welches einen hohen Koordinationsaufwand mit sich bringt.
Das Projekt epSOS hat den angestrebten «proof of concept» erbracht: Seit der zweiten Hälfte 2012 sind erste Länder mit ihren Anwendungsfällen online. Dies beweist, dass es möglich ist, unterschiedlichste Ausgangslagen in einheitliche elektronische Prozesse umzugiessen. Allerdings wird sich epSOS kurzfristig kaum als homogene europäische Lösung für den transnationalen Austausch von Gesundheitsdaten durchsetzen – zu unterschiedlich sind die jeweiligen nationalen eHealth-Infrastrukturen, politischen Ziele und Entwicklungsstände.
Die in epSOS implementierten Notfalldatensets, elektronische Patientenakten und elektronische Rezepte können einen wichtigen Beitrag zur Patientensicherheit leisten, indem sie Behandlungsfehler verhindern, das medizinische Personal in Notfallsituationen mit lebensrettenden Informationen versorgen und die Wiederholung diagnostischer Prozeduren vermeiden.

Einführung

Smart Open Services for European Patients (epSOS) ist ein europaweites, im Juli 2008 gestartetes Projekt, in welchem regionale Ministerien, Kompetenzzentren und Partner aus der Industrie zusammenarbeiten, um einen grenzüberschreitenden elektronischen Austausch von Patientendaten zu ermöglichen. Schon seit vielen Jahren setzen zahlreiche Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auf die Entwicklung und den Einsatz elektronischer Patientenakten, um die Qualität und Effizienz der medizinischen Versorgung zu verbessern. Diese Bemühungen sollen in dem Projekt epSOS koordiniert werden und darüber hinaus die Entwicklung und praktischen Umsetzung eines eHealth-Rahmenkonzeptes sowie einer Informations- und Kommunikationstechnologie-Infrastruktur, die den Zugriff verschiedener europäischer Gesundheitssysteme auf elektronische Patienteninformationen ermöglichen, verwirklicht werden. epSOS hat einen technischen Schwerpunkt, setzt sich jedoch auch mit semantischer und rechtlicher Interoperabilität auseinander. Die entwickelten Lösungen werden im Rahmen einer großangelegten Pilotphase auf ihre praktische Anwendbarkeit getestet. Während der Pilotphase werden zwei Dienstleistungen getestet: Das «Patient Summary» (Patientendossier) sowie elektronische Rezepte und die computerunterstützte Ausgabe der entsprechenden Medikamente («ePrescription» und «eDispensation»).
Der Kanton Genf und das Universitätsspital Genf (HUG) sind in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Westschweiz Genf (HES-SO) seit November 2011 Projektpartner in epSOS. Die Schweizer Teilnahme ist bis Ende 2013 (Ende des Projektes epSOS) befristet. Die Teilnahme des Universitätsspitals Genf wird durch den Kanton Genf mit seinem Pilotprojekt e-toile (Kerninhalt: elektronische Patientendossiers) und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) unterstützt. Das HUG bietet nicht alle von epSOS angebotenen Services an, sondern konzentriert sich darauf, anderen epSOS-Teilnehmerregionen ab der ersten Jahreshälfte 2013 den Zugriff auf das Patient Summary von PatientInnen des HUG zu ermöglichen. Vom epSOS-Projekt erhoffen sich der Kanton Genf, das BAG und «eHealth Suisse» (Koordinationsorgan eHealth Bund ‒ Kantone) wichtige Erkenntnisse und Impulse für die weitere Etablierung von eHealth in der Schweiz.
In diesem Artikel wird die Bedeutung und der Nutzen für die Schweiz an der Teilnahme des Projektes epSOS hinsichtlich der ersten Ergebnisse besprochen sowie die Auswirkungen auf die nationale eHealth-Strategie der Schweiz.

Resultate

Die Umsetzung eines europaweiten transnationalen, elektronischen Datenaustausches bringt unterschiedliche Problematiken (Authentifizierung; Heterogenität der Gesetzgebung, der Gesundheitssysteme sowie der Infrastruktur der unterschiedlichen Projektpartner usw.) mit sich. epSOS zielt darauf ab, Lösungen für diese Problematiken zu finden, welche in unterschiedlichsten Kontexten angewandt werden können. Die wichtigsten Lösungsansätze und deren Implementierung in der Schweiz sind nachfolgend beschrieben.

Nationale Kontaktstelle

Jedes epSOS-Teilnehmerland etablierte für den transnationalen Datenaustausch einen sogenannten National Contact Point (NCP) im Sinne eines nationalen Gateways. Die gesicherte Verbindung zwischen den verschiedenen nationalen NCPs bildet die Grundlage für den epSOS-Vertrauensraum. Aufgaben des Schweizer NCP sind:
‒ Anbindung des Systems «eHealth Schweiz» an die europäische (epSOS-) Infrastruktur;
‒ nach Bedarf semantisches Mapping: der NCP ist bei der transnationalen Datenübertragung für den Abgleich der medizinischen Codierung und für die Übersetzung zuständig;
‒ Sicherstellung von Vertraulichkeit und Datenschutz mit NCP anderer Länder.

Patient Summary

Das epSOS-Summary gibt es in einer längeren und kurzen Version. Es enthält strukturierte Daten. In Notfallsituationen kann das «Patient Summary» lebenswichtige Informationen für den behandelnden Arzt in seiner Landessprache bereitstellen und somit die Qualität und Sicherheit der Behandlung sicherstellen ‒ z.B. dadurch, dass die Verschreibung von unverträglichen Medikamenten beziehungsweise Medikamentenkombinationen verhindert werden kann. Um ein einheitliches Patient Summary zu haben, welches auch automatisch übersetzt werden kann, hat sich epSOS dazu entschieden, HL7 «Clinical Document Architecture» (CDA) mit strukturierten Daten zu verwenden.
Ärzte oder Apotheker, welche mit dem Netzwerk assoziiert sind und dem epSOS-Vertrauensraum angehören, haben die Möglichkeit, mit dem Einverständnis des Patienten auf eine Zusammenfassung zurückzugreifen, welche wichtige Informationen über den Patienten und dessen Gesundheitsgeschichte enthält. Dieses Daten-Set wird als «Patient Summary» bezeichnet und enthält folgende Informationen:
‒ allgemeine Informationen über den Patienten wie z.B. dessen Name und Alter;
‒ die wichtigsten klinischen Patientendaten wie z.B. Allergien, aktuelle medizinische Probleme, medizinische Implantate sowie wesentliche chirurgische Eingriffe während der letzten sechs Monate;
‒ eine Zusammenfassung der aktuell verschriebenen Medikamente;
‒ Informationen über die Aktualität und den Ursprung des «Patient Summary».
Dank dieser Zugriffsmöglichkeit auf Genfer Patientendaten können Behandelnde aus epSOS-Pilotregionen in ihren Entscheidungen die Vorgeschichte der/s Patientin/en berücksichtigen, was eine optimale Behandlungsqualität möglich macht.

Master Value Catalogue (MVC) Semantik

Um die Anforderungen an einen sicheren Datenaustausch zu erfüllen, hat epSOS ein Vokabular erarbeitet, das die Codierung medizinischer Information in einer Weise ermöglicht, welche die Verwendung einer standardisierten Semantik ermöglicht. Dieses Vokabular besteht aus mehr als 10’000 medizinischen Konzepten und bedient sich verschiedener medizinischer Terminologien wie ICD10-WHO, UCUM, SNOMED CT, LOINC, ATC, ISO, ISCO, IHE, HL7 und EDQM. Es werden auch epSOS-spezifische Terminologien verwendet. Das System zeichnet sich durch eine flache Hierarchie aus. Das resultierende Begriffssystem bildet den sogenannten MVC (Master Value Catalogue). Der MVC ist innerhalb epSOS in ca. zwölf Sprachen erhältlich (Master Translation Catalogue MTC). Dank dem MTC ist eine automatisierte Übersetzung von Patienteninformation in die Muttersprache eines anfragenden Behandelnden möglich. Das epSOS-MVC soll als Open-source-Element künftig allen Interessierten zur Verwendung offen stehen. Es ist nicht auszuschliessen, dass auch der Teil MCT open source wird.
Die meisten Projektpartner in epSOS nutzen für die automatische Übersetzung das kommerzielle Tool HealthTerm [3]. Die Schweiz hat sich jedoch dafür entschieden, ein eigenes Tool zu entwickeln, um nicht an ein kommerzielles Tool gebunden zu sein. Mit diesem entwickelten Tool werden lokal genutzte Terminologien in Pivot-Tabellen umgewandelt. Dabei wird nicht nur die sprachliche Übersetzung durchgeführt, sondern auch die Transformation zwischen den unterschiedlichen Standards, wie zum Beispiel von CHOP [4] zu SNOMED [5].

Diskussion

Die EU-Richtlinie vom 9. März 2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung fordert die Etablierung eines einheitlichen europäischen Patient Summary. Interessant ist, dass im Rahmen der «eHealth Governance Initiative» das in epSOS definierte Patient Summary zwecks politischer Adoption in den einzelnen Mitgliedsstaaten diskutiert wird. Es ist daher möglich bis wahrscheinlich, dass das Patient Summary aus epSOS mittel- bis langfristig als minimal data set für Europa auf länderindividueller Ebene rechtlich verankert werden wird. Die Schweiz kann dies in den eigenen Arbeiten antizipieren. Bereits antizipiert wurde dies im HL7-Standard «Medizinisches Notfalldatenset» (gemäss VVK-EDI, im Auftrag der Post), worin das epSOS-Summary mitverarbeitet wurde [2]. Der Patientenzugang zu den eigenen Gesundheitsdaten ist mittelfristig auch im Projekt e-toile geplant – hier könnten sich Synergien ergeben. epSOS hat in Bezug auf genutzte Standards einen Einfluss auf die Schweizer eHealth-Strategie genommen. Standards, für welche man sich innerhalb des Projektes epSOS entschieden hat, werden aufgrund dessen auch in der Schweiz genutzt.
Das Gesundheitssystem in der Schweiz basiert auf einer komplexen und fragmentierten Organisation, welche aus dem dezentralen föderalistischen System mit 26 kantonalen Gesundheitssystemen und hoher Gemeindeautonomie resultiert. Auch die Tatsache, dass die Schweiz ein mehrsprachiges Land ist, kann bei dem elektronischen Datenaustausch von Patientendaten zu Problemen führen. Viele Problematiken und Lösungsansätze, die in dem Projekt epSOS erörtert werden, können theoretisch auf die Schweiz übertragen werden, da diese Problematiken aus einem ähnlichen Ursprung entstanden sind.
Die Beteiligung der Schweiz an epSOS bietet die Möglichkeit, Lösungsansätze, welche innerhalb dieses Projektes getestet werden, hinsichtlich der Anwendbarkeit auf das Schweizer System zu evaluieren und eine gemeinsame Architektur und gemeinsame Standards zu fördern.
Der potenzielle Nutzen der nationalen Schweizer epSOS-Kontaktstelle ist eine Erweiterung seines Wirkungskreises zu einer Funktion als nationaler Kontaktpunkt für die Schweiz, wie er im Entwurf des Bundesgesetzes über das elektronische Patientendossier (EPDG) vorgesehen ist. Unter einem «nationalisierten NCP» wird eine Erweiterung der Brokerfunktion des NCP über epSOS-Zwecke hinaus in Richtung der NCP-Nutzung durch weitere Schweizer Kantone für den grenzüberschreitenden Datenaustausch verstanden. Vorbedingung für eine derartige NCP-Erweiterung ein entsprechendes Interesse der Kantone.
Die Gestaltung und Implementierung eines komplexen eHealth-Systems bringt viele Herausforderungen mit sich, aber einen potenziellen grossen Nutzen, insbesondere in einem fragmentierten, mehrsprachigen Land wie der Schweiz. Die Bereitstellung von elektronischen Patientendossiers mit strukturierten, automatisch übersetzbaren Daten in epSOS trägt zur Verbesserung der Qualität, Sicherheit und Effizienz der Versorgung bei. Die Verfügbarkeit von strukturierten, verlässlichen, unmissverständlichen klinischen Daten trägt zur Vereinfachung und Kontinuität von Versorgungsprozessen und macht diese sicherer. Das in der Schweiz genutzte und entwickelte Tool für die automatische Übersetzung der Terminologien kann potenziell nicht nur zum Austausch von Daten zwischen der Schweiz und anderen epSOS-Ländern genutzt werden, sondern auch innerhalb der Schweiz zwischen den Kantonen. Das Tool übersetzt nicht nur sprachlich, sondern auch zwischen unterschiedlichen Standard-Codes.
Die Beteiligung der Schweiz an epSOS erlaubt es, Lösungsansätze zu testen, deren Anwendbarkeit auf den Schweizer Kontext zu erörtern, Anreize durch die Demonstrierung der Vorteile zu schaffen und die gemeinsame Vision für die Zukunft der Schweizer eHealth Strategie weiter zu nähren.
Die Beispiele epSOS und Umsetzung der «Strategie eHealth Schweiz» zeigen die Grenzen horizontaler Koordination auf: Mit ihr können trotz fehlender Verbindlichkeit wichtige Meilensteine erreicht werden. Aufgrund der Freiwilligkeit bleiben die zentrifugalen Tendenzen aber ein ständiges Risiko. Horizontale Koordination muss durch eine getragene Policy flankiert werden. In den Worten des Politikwissenschaftlers Fritz Scharpf droht bei fehlenden vertikalen Steuerungselementen (Vorgaben, Anreize u.a.) eine rein negative Koordination, die primär die Interessenlage der eigenen Organisation in den Vordergrund stellt.
Die Schweizer epSOS-Teilnahme hat die schweizinterne eHealth-Entwicklung konzeptuell befruchtet. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass potenziell nutzbare Elemente aus epSOS für die Schweiz der NCP, das Patient Summary, automatisierte Semantik- und Übersetzungsdienste sowie der Use Case Patient Access sind. Angesichts der verzögerten eHealth-Entwicklung der Schweiz kann es allerdings sein, dass diese Errungenschaften für die Schweiz zu früh kommen.
Korrespondenz:

Caroline Perrin

Division of eHealth and Telemedicine

Geneva University Hospitals

4, rue Gabrielle-Perret-Gentil

CH-1211 Geneva 14

Caroline.Perrin[at]hcuge.ch
1 epSOS – the European eHealth Project, accessed 19th May 2013, URL: http://www.epsos.eu/
2 Health Level Seven, Öffentliche Anhörung zu Implementierungsleitfäden, accessed 19th May 2013, URL: http://www.hl7.ch/technisches-komitee/anhoerung.html
3 HealthTerm – Sharing Healthcare Knowledge, accessed 21st May 2013, URL: http://www.healthterm.com/
4 Nomenklaturen – Schweizerische Operationsklassifikation (CHOP), accessed 17th May 2013, URL: http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/infothek/nomenklaturen/blank/blank/chop/02/04.html
5 International Health Terminology Standards Development Organization, accessed May 17th 2013, URL: http://www.ihtsdo.org/