Psychosomatik und Psychiatrie
Interview mit Dr. med. Hanspeter Flury, Chefarzt der Klinik Schützen Rheinfelden (AG)

Psychosomatik und Psychiatrie

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Issue
2017/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2017.00512
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2017;168(05):154-155

Published on 09.08.2017

Karl Studer: Du bist Chefarzt einer Klinik für Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapie. Was unterscheidet Eure Klinik von andern privaten oder öffentlichen psychiatrischen Kliniken?
Hanspeter Flury: Wir behandeln – auf der ­Basis einer umfassenden Diagnostik – psychisch und psychosomatisch kranke Menschen mit intensiven modernen, indi­viduell abgestimmten Therapieprogrammen, die Psychotherapien mit Elementen verschiedener Schulen, psychiatrische und somatische, körperorientierte, kreativ-expressive und sozialpsychiatrische Behandlungen und Pflege ­beinhalten. Angehörigenarbeit und die Vorbereitung der Situation nach Austritt sind sehr wichtig. Wir stehen Patienten aller Ver­sicherungsklassen ­offen, Privat-, Halbprivat- und Allgemein- ­Versicherten, und sind auf der Spitalliste ­verschiedener Kantone der Region aufgeführt.
Was das Besondere ausmacht im ­Vergleich zu andern psychiatrischen Kli­niken, ist die hohe Vielfalt und Dichte der indivi­duellen, ­interprofessionell fein ­ab­gestimmten Therapieprogramme und der hohe Stellenwert ­körperorientierter Be­handlungen, also enger ärztlich-somatischer Mitbetreuung und Fallführung, Physiotherapie, ­Förderung von ­Körperwahrnehmung und -ausdruck, Wassergymnastik, Entspannung und Achtsamkeit, Fitness und Sport – und dies ­alles im Rahmen eines Kli­nik-im-Hotel-­Konzepts mit hoch­stehender Hotellerie in gesundheitsfördernder Atmosphäre. Wir sind keinem Aufnah­mezwang unter­worfen und führen keine geschlossenen ­Abteilungen. Die Vorgespräche, die wir mit ­jeder Patientin, jedem Pa­tienten vor Eintritt durchführen, wirken ent­stigmatisierend, erhöhen ihre Motivation und ihr Enga­gement für eine Behandlung und tragen so zu einem besseren Verlauf bei.
KS: Führt Ihr spezialisierte Abteilungen?
HF: Ja, aber die fünf Abteilungen mit 99 Betten sind nicht diagnose-spezifisch ausge­richtet, sondern nach dem Gesamtvektor der erforderlichen Behandlung. So stehen auf ­einer ­Abteilung für körperorientierte Therapien körpernahe Krankheitssymptome und entsprechende Behandlungsansätze (häufig auch traumazentrierte) im Vordergrund. Auf ­einer zweiten Abteilung werden Patienten mit psychischen und psychosomatischen Krankheiten in der zweiten Lebenshälfte (44 plus) behandelt, auf einer dritten junge ­Erwachsene mit Depressionen, Ängsten, Essstörungen und Persönlichkeitsstö­rungen. Eine vierte Abteilung widmet sich ­Patienten mit Anpassungsstörungen, Burnout und ­protrahierten Lebenskrisen, auf der fünften werden psychoonkologische Patienten mit Depressionen, Angstzuständen ­sowie Soma­tisierungen bei einer Krebs­erkrankung behandelt.
Jede Abteilung bietet ein eigenes Basis­pro­gramm; dazu gibt es ­modulare gesamt­kli­nische Angebote (kreativ-expressive, körper- und achtsamkeitsorientierte, psycho­edukative und naturbasierte), die bei jedem Patienten – auf die individuelle Zielsetzung abgestimmt – mit eingeplant werden.
Wir führen auch eine psychotherapeutische Tagesklinik (in Rheinfelden) sowie zwei psychotherapeutisch-psychosomatische Ambulatorien (in Rheinfelden und in Aarau). Guter Kontakt besteht mit den Psychiatrischen ­Kliniken des Kantons, ­namentlich den Psychiatrischen Diensten des Kantons Aargau und der Klinik Hasel, ebenso mit der Barmelweid als weiterer psychosomatischer Klinik im Aargau, sowie mit Kliniken der Region, ins­besondere der universitären psychiatrischen Kliniken ­Basel-Stadt und der Psychiatrie ­Baselland, und auch mit Rehabilitationskli­niken.
KS: Warum betont Ihr die Psychosomatik als zentrales diagnostisches und therapeu­tisches Instrument ?
HF: Weil unsere Patienten an komplexen ­Problemen, Symptomen, Krankheiten und Belastungen leiden, und um diese gut zu ­behandeln, müssen wir ganzheitlich und ­umfassend vorgehen. Somatische, aber auch soziale ­Aspekte sind dabei – neben ­psychischen – sehr wichtig, werden in der Psychia­trie aber oft zu wenig gewichtet. Der Körper wird allenfalls in seiner Funktiona­lität gesehen; dabei sind – in Verbindung mit psych­iatrisch-psychotherapeu­tischen und sozialpsychia­trischen Interven­tionen – Körperwahrnehmung und -ausdruck wichtige Wege für den Zugang zu Menschen und bedeutende Ressourcen. Entsprechend breit intervenieren wir. Leider werden in vielen psychiatrischen Institutionen somatische Therapie-­Angebote im Rahmen von Sparprogrammen derzeit eher ab- statt aufgebaut.
KS: Was verstehst Du unter Psychosomatik?
HF: Psychosomatik ist eine ganzheitliche Sicht der Medizin, die körperliche, seelische und soziale Aspekte von Gesundheit, Krankheit und Behandlung berücksichtigt, was ­speziell bei längerdauernden Leiden, bei funktionellen Krankheiten und in der Reha­bilitation unabdingbar ist. Psychosomatik ist somit in erster Linie ein Querschnittsfach, das grundlegendes Wissen über biopsycho­soziale Gesundheits-, Krankheits-, Behandlungs- und Versorgungsmodelle sowie entsprechende Fähigkeiten und Fertigkeiten zu Diagnostik, Arzt-Patienten-Kommunikation und Behandlung vermittelt. Dabei spielen kommunikative und therapeutische Fähigkeiten eine grosse Rolle, die auf psycho­the­rapeutischen Techniken basieren (z.B. Entspannungs- und Achtsamkeits-Techniken), aber auch Spezifisches über die Arzt-Patienten-Beziehung («5 Minuten pro Patient», ­«motivational interviewing») sowie über ­Körpersymptome bei funktionellen oder chronischen Erkrankungen und deren Behandlung (beispielsweise in der urologischen Psychosomatik oder in der Rehabilitation). Das biopsychosoziale Modell mit multi­perspektivischer Sicht, Methodik und Interventionssteuerung erfasst auch die Komplexität psychischer Krankheiten am besten.
Psychosomatik ist also in erster Linie ein Querschnittsfach, von der jede und jeder ­medizinisch Tätige etwas verstehen sollte. Demzufolge sollte ihr bereits im Medizin­studium ein zentraler Stellenwert zukommen, um die Studierenden der Medizin früh für diese Sichtweise zu sensibilisieren, ja zu begeistern und die Freude am Beruf, an der Begegnung mit den Menschen langfristig ­aufrecht zu ­erhalten. Und entsprechende Ansätze bewähren sich: Beispielsweise stossen die psycho­somatisch orientierten Kurse, die wir für ­Studierende der Medizin der Univer­sität ­Basel bei uns durchführen, auf viel Interesse und ein positives Echo. Auch praktisch tätige Ärzte aus allen medizinischen Diszi­plinen, insbesondere Allgemeinmedizin, Gynäkologie, Onkologie oder Innerer Medizin, eignen sich zunehmend psychosomatisch-psycho­soziale Kompetenzen an, gerade bei funk­tionellen oder chronischen Krankheiten oder angesichts der häufigen Komorbidität, die zu komplexem Denken zwingt. Für sie wurde die Schweizerische Akademie für Psychosoma­tische und Psychosoziale Medizin SAPPM ­gebildet und ein eigener Fähigkeitsausweis für Psychosomatische und Psychosoziale ­Medizin FMH geschaffen, mit eigenen TAR-MED-Tarifpositionen.
Psychosomatik ist aber nicht nur ein Querschnittsfach, sondern auch ein Spezialgebiet, in dem das entsprechende Fachwissen vertieft angewendet, erforscht und praktiziert wird, insbesondere in psychosoma­tischen Kliniken, in psychiatrischen Kon­siliar- und Liaison-Diensten somatischer Spitäler, bei Psychosomatikspezialisten, die sich um komplex, chronisch und funktionell ­Erkrankte ihres Fachs kümmern, sowie in der Rehabilitation.
KS: Das Curriculum der Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie ist in vielem ähnlich; warum können sie nicht auto­matisch Psychosomatiker sein?
HF: Im Unterschied zu Deutschland, wo die Psychiatrie sich traditionell als organisch und in der Nähe zur Neurologie definiert, ohne Psychotherapie mit einzuschliessen, hat die Schweizer Psychiatrie stets die Psycho­therapie gepflegt, was sich seit jeher auch im Schweizer Facharzttitel (Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie) zeigt und meines Erachtens von grossem Vorteil ist. Auch wurden in der Schweiz die Konsiliar- und Liaisondienste an somatischen Spitälern meist von der ­Psychiatrie aufgebaut. In Deutschland wurden ausserhalb der Psychiatrie – zuerst an­gelehnt an somatische Kliniken – eigene ­psychosomatische Abteilungen und dann ­Kliniken errichtet, mit starker psychotherapeutischer Ausrichtung (was sich lange im Facharzttitel «Psychosomatik und Psychotherapie» zeigte). In den letzten Jahren wird die Psychotherapie auch in der deutschen ­Psychiatrie wichtiger.
Schweizer Fachärzte für Psychiatrie und ­Psychotherapie verfügen daher über eine ­ausgesprochene Kompetenz für seelisches Leiden und für deren psychotherapeutische Behandlung. Was aber vielen fehlt, sind eine vertiefte Ausbildung und Erfahrung in der ­Behandlung körpernaher Krankheiten und Symptome, trotz des Fremdjahrs, das oft als lästig erlebt wird und das viele streichen ­wollen, um die Weiterbildung zu verkürzen. Dies erscheint mir für die Zukunft unseres ­Berufes als Psychiater – wenn wir patienten­orientiert und ganzheitlich denken und handeln wollen – falsch. Denn gerade psychosomatische, aber auch psychiatrische Patienten erleben ihr Leiden häufig körpernah und ­spüren ihre Sorgen und Nöte primär über den Körper. Diese fühlen sich nicht verstanden, wenn vorschnell ihr Erleben ergründet und mögliche Zusammenhänge von körperlichen Symptomen und psychosozialen Belastungen gesucht werden. Zudem erlaubt eine soma­tische Ausbildung Psychiatern, körperliche Aspekte besser zu gewichten. Des Weiteren werden auch psychosoziale Zusammenhänge oft zu wenig beachtet, insbesondere entsprechende Interventionen werden vernachlässigt, obwohl sie für einen Genesungsverlauf oft entscheidend wären. Damit sollten sich auch Psychiater in ihrer Weiterbildung vertieft beschäftigen, was manche auch tun. Und so macht es Sinn, bei Facharzttitelträgern ­Psychiatrie und Psychotherapie nicht auto­matisch die Psychosomatik-Kompetenz mit zu subsumieren, sondern ihr Curriculum ­individuell darauf zu prüfen, inwieweit sie psychosomatisches Wissen und Erfahrung ­erworben haben.
KS: Dieses Manko wäre ja durch gezielte Fortbildung bei den Titelträgern nachzu­holen. Wie siehst Du das?
HF: Ja. Und viele Titelträger bilden sich entsprechend weiter, auch an den Fachtagungen und Seminaren unserer Klinik, die wir seit Jahren 6x jährlich mit jeweils 150–250 Teilnehmenden anbieten, zu psychosomatischen Themen wie «Psychosomatik und Gastro­enterologie», «Sexualmedizin», «Psychoonkologie» und «Psyche und Arbeit» oder zu Themen aus Psychiatrie und Psy­chotherapie. Hier gibt es neben Inputs und Workshops intensive Gespräche zwischen Grundversorgern, somatischen Spezialisten, Psychiatern/Psychotherapeuten und weiteren Interessierten.
KS: Was möchtest Du den Mitgliedern der SGPP mit auf den Weg geben ?
Mich beschäftigt der Mangel an Nachwuchs in unserem Fach. Wir Psychiater arbeiten in einem höchst sinnvollen Beruf: Unsere Tätigkeit ist vielseitig und von hohem Wert für die Kranken, ihre Angehörigen und die Gesellschaft als Ganze. Sie bringt uns selber ­derart viel Befriedigung und ermöglicht ­tiefgehende Begegnungen mit Menschen, was sie für uns interessant und erfüllend macht. Dies sollten wir alle lebhaft vertreten und ­aufzeigen, um mehr Studierende der ­Medizin für unser Fach zu gewinnen. Und das ist heute nötiger denn je, denn die Eintritts­prüfungen ins Medizinstudium scheinen eher technisch-naturwissenschaftlich Aus­gerichtete zu selektionieren und ­psychisch-sozial Interessierte in andere Studienrich­tungen zu lenken. Schade. Psy­chiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik müssen wichtige Pfeiler der Medizin bleiben und auch von Ärzten praktiziert und gelebt werden.
Dr. med. Karl Studer
Praxis im Klosterhof
Klosterhofstrasse 1
8280 Kreuzlingen
karl.studer[at]bluemail.ch