Autonomie, ein zentraler, aber sperriger Begriff der Psychiatrie
Ein Votum für den Dialog zwischen Psychiatrie und Philosophie

Autonomie, ein zentraler, aber sperriger Begriff der Psychiatrie

Review Article
Issue
2017/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2017.00510
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2017;168(06):175-182

Affiliations
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Zürich, Schweiz

Published on 20.09.2017

Autonomie ist in jüngerer Zeit zu einem zentralen ­Bezugspunkt der Medizinethik geworden. Das Thema hat zwar für die gesamte Medizin eine hohe Bedeutung, doch ist die Psychiatrie insoweit besonders ­intensiv betroffen, als zahlreiche von ihr behandelte Erkrankungen mindestens temporär die Fähigkeit ­beeinträchtigen können, die persönliche Autonomie in der Lebenspraxis konkret wahrzunehmen. Ein ­weiterer, deutlich weniger gerne (und weniger oft) ­diskutierter Aspekt, der das Fach Psychiatrie mit der Autonomiedebatte verknüpft, ist der Umgang mit medizinischen Zwangsmassnahmen. Schon diese präliminaren Überlegungen deuten an, dass wir es bei der Autonomie mit einem Topos zu tun haben, der nicht nur zum Kern psychiatrischen Handelns vorstösst, sondern auch ohne Einbettung in einen philosophischen Argumentationshorizont weder wirklich verstanden noch praxisrelevant umgesetzt werden kann. Natürlich geht es dabei in erster Linie um die Auto­nomie der Patientinnen und Patienten, jedoch im ­Wissen um die notwendige Wechselwirkung mit der Autonomie der anderen beteiligten Personen, seien es psychiatrische Fachleute, Angehörige oder Behördenmitglieder.
Die Notwendigkeit, den interdisziplinären Dialog ­zwischen Psychiatrie und Philosophie substanziell zu fördern und (wieder) zu einem genuinen Bestandteil des Selbstverständnisses unseres Faches zu machen, lässt sich an vielen Beispielen darlegen. Eines davon, ähnlich grundsätzliche Momente berührend wie das Konzept der Autonomie, ist das aktuell viel diskutierte biopsychosoziale Modell. Ursprünglich gedacht als konzeptueller Neubeginn einer von flachem Schu­lenstreit in ihrer Weiterentwicklung behinderten ­Psychiatrie [1, 2], sieht es sich heute viel­fältiger Kritik ausgesetzt: Es komme über die bloss ­additive Verbindung verschiedener Perspektiven nicht hinaus, habe zu wenig argumentative Substanz und stelle somit gerade kein neues und übergreifendes ­Modell dar, an dem sich eine multiperspektivisch ­arbeitende Psychiatrie in Praxis und Forschung orientieren könne [3]. Die Debatte um die Autonomie trägt vielfach ähnliche Züge: Allein als gleichsam apriorische, nicht zu hinterfragende Referenz nützt der allgegenwärtige Verweis auf die Autonomie sowohl der therapeutischen Praxis als auch der konzeptuellen Weiterentwicklung der Psychiatrie wenig. Er kann vielmehr, wie gezeigt werden soll, sogar zu Entwicklungen führen, die den Betroffenen mehr ­schaden als nützen.
Vor diesem Hintergrund wird Autonomie hier als ­zentrales Element psychiatrischen Handelns verstanden und in einen kritischen begriffsgeschichtlichen Kontext gestellt. Damit soll einer nachhaltigen Beschäftigung mit dem Thema jenseits der sich stets ­aufdrängenden dogmatischen Engführungen der Weg geebnet werden.

Die fragile Identität der Psychiatrie erfordert klare Kernbegriffe

Es gehört zu den Charakteristika der Psychiatrie, dass ihre Konzepte eine ausgeprägte Verschränkung mit dem jeweiligen sozialen und politischen Umfeld aufweisen. Es ist eben – im Unterschied etwa zur ­Neurochirurgie – nicht so, dass die Gesellschaft ­psychiatrische Fachfragen in neutral-sachlicher Weise vollständig an entsprechende Spezialisten übergibt, um dann deren wissenschaftlich begründete Antworten entgegenzunehmen. Vielmehr fliessen implizite und explizite Vorstellungen der Gesellschaft, was ­normal, gesund, gestört oder krank sei und was nicht, oft nachhaltig, wenn auch nicht auf den ersten Blick ­erkennbar, in die psychiatrische Theorieentwicklung ein, mehr jedenfalls als in medizinischen Fächern, die sich stärker auf unbestrittene quantifizierende ­Methoden abstützen können.
Doch gibt es nicht nur einen markanten Einfluss «von aussen» auf die Psychiatrie, auch innerhalb des Faches finden sich seit seiner Entstehung als wissenschaft­liche Disziplin im Zeitalter der Aufklärung erheblich divergierende und konkurrierende Schulen, speziell hinsichtlich der konzeptuellen Grundlagen des psychiatrischen Krankheitsbegriffs [4–7]. Die verschie­densten Ansätze nehmen für sich in Anspruch, der psychischen Störung, der «Geisteskrankheit», wie es bis weit in das 20. Jahrhundert hinein hiess, in besonderer Weise gerecht zu werden. Auch die massive, zu ­einem nicht unbeträchtlichen Teil aus der Psychiatrie selbst kommende antipsychiatrische Kritik der Sech­ziger- und Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts, die die grundsätzliche Ausrichtung des Faches, vor allem seine Einbettung in einen medizinisch-naturwissenschaftlichen Kontext, für grundsätzlich verfehlt und an den Interessen der betroffenen Personen vorbei­gehend hielt, hat in dieser Radikalität nicht viele Parallelen in der Medizin.
Schliesslich sind in der Psychiatrie wissenschafts­theoretische und ethische Fragen von entscheidender Bedeutung, und zwar nicht nur im theoretischen ­Kontext, sondern auch mit Blick auf die konkrete Untersuchungs- und Behandlungspraxis. Beispiele sind die das Fach schon immer begleitenden und kontrovers diskutierten Fragen des Verhältnisses zwischen psychischen (mentalen) und somatischen (neuro­nalen) Vorgängen, das klassische Leib-Seele-Problem also, das wissenschaftstheoretische Spannungsfeld zwischen objektiven Sachverhalten einerseits und ­subjektivem Erleben und Bewerten andererseits, die das Menschenbild jeder einzelnen psychiatrischen Fachperson berührende Frage, inwiefern naturwis­senschaftlich beschreibbare Kausalzusammenhänge Raum lassen für Konzepte wie Entscheidungsfreiheit, personale Verantwortung und damit auch für Auto­nomie. Es stellen sich normative Fragen: Wer legt mit welcher Berechtigung die Grenze fest zwischen dem Anderssein, das die Vielfalt menschlicher Existenz­möglichkeiten widerspiegelt, und dem Kranksein, bei dem von behandlungsbedürftigem Leiden gesprochen werden muss und im Falle psychischer Störungen die Intervention der Psychiatrie gefordert ist.
Schon ein kursorischer Blick auf die Geschichte der Psychiatrie in den letzten dreihundert Jahren zeigt deutlich, wie heterogen die Ansätze gewesen sind, um psychische Erkrankungen zu beschreiben, zu ­diagnostizieren und zu behandeln. Um in einer der­artig heterogenen «Theorienlandschaft» handlungs­fähig bleiben und das Interesse des psychisch erkrankten Individuums im Vordergrund halten zu können, bedarf es der kontinuierlichen Arbeit an den Grund­begriffen, nicht zuletzt mit Blick auf die Identität des Faches. Zu diesen Grundbegriffen gehören Krankheit, Gesundheit, Behandlung, aber eben auch Person und Autonomie.
Nicht selten wird die geschilderte spannungsreiche Theorienvielfalt als eine Schwäche der Psychiatrie ­angesehen, dies zum einen bezogen auf ihre wissenschaftliche Identität, zum anderen auf ihre Attrak­tivität für den akademischen Nachwuchs. Allzu selbstbewusst agiert das Fach hier in der Tat nicht, und dies obwohl es in seiner Geschichte immer wieder massgebliche Autoren gab, die den Methoden- und Theorienpluralismus für eine dem «Forschungsgegenstand» in besonderer Weise angemessene Stärke ­hielten, etwa Karl Jaspers (1883–1969), Arthur Kronfeld (1886–1941), Ernst Kretschmer (1888–1964) und Werner Janzarik (geb. 1920). Freilich gelte dies nur dann, wenn es dem Fach gelänge, seine Identität auf eine perspek­tivenübergreifende Klammer abzustützen, eine Klammer, die vor allem sicherstellt, dass der eigentliche ­Bezugspunkt, die psychisch erkrankte Person, im Geflecht konkurrierender Methoden und Konzepte nicht aus dem Blick gerät [8].

Autonomie als psychiatrischer Kern­begriff: eine aufklärerische Wurzel

Aus ideengeschichtlicher Perspektive darf sich die ­Psychiatrie dezidiert auf Wurzeln im Zeitalter der ­Aufklärung berufen, deren zentrales Thema die Defi­nition – und vor allem Aufwertung – der Position des ­entscheidungsfähigen und verantwortlichen Subjektes war. Allerdings sind bei dieser optimistisch an­mutenden Selbsteinschätzung der Psychiatrie zwei ­gewichtige kritische Einwände zu berücksichtigen.
– Ist es nicht Ausdruck von Naivität, Geschichts­vergessenheit oder, bedenklicher, von Hybris, wenn ein Fach auf aufklärerische Ideale pocht, in dessen Geschichte es immer wieder zu gravierenden Verletzungen von Menschenrechten gekommen ist bis hin zur menschenverachtenden, von einer ebenso banalen wie demagogischen Pseudowis­senschaft getragenen Psychiatrie im Nationalsozialismus? Dieser Einwand ist, sofern er eine ernsthafte und nachhaltige Auseinandersetzung mit der psychia­trischen Ideen- und Institutionsgeschichte ein­fordert, völlig berechtigt. Doch darf er die ­tat­sächlich einer personzentriert-aufklärerischen Perspektive verpflichteten Kernelemente des Faches nicht entwerten oder unkenntlich machen.
– Der Begriff der Aufklärung selbst ist nicht frei von Ambiguitäten: Aufklärung im Kantischen Verständnis als «Ausgang des Menschen aus seiner selbst­verschuldeten Unmündigkeit» führt eben nicht zwingend zu Wissenserweiterung und Fortschritt. Vielmehr kann dieser Prozess bei mangelhafter ­kritischer Begleitung durchaus in sein Gegenteil umschlagen: «Dialektik der Aufklärung» nannte dies die Frankfurter Schule [9, 10]. Wiewohl aus­drücklich politisch gemeint, erweist sich dieses ­Caveat auch für Überlegungen zum psychiatrischen Selbstverständnis als fruchtbar: Eine in der Auf­klärung verankerte konzeptuelle Basis garantiert nicht einen angemessenen, sprich humanen Umgang mit der erkrankten Person – leider gibt es dafür eine Reihe von Beispielen. Bedeutsam ist ferner, dass Aufklärung im hier gemeinten Sinne gerade nicht identisch ist mit einem kühl-distanzierten Rationalismus, sondern die Person eingebettet sieht in ihren jeweiligen lebensweltlichen Kontext, der eben auch die nicht-kognitiven Domänen umfasst. Mit Blick auf die «Personalisierung» des Autonomiebegriffes wird auf die Notwendigkeit einer kritisch­en, i.e. mehrdimensionalen Aus­legung der aufklärerischen Wurzeln der Psychiatrie zu­rückzukommen sein.
Auch nach sorgfältiger Abwägung skeptischer Einwände verbleibt doch ein zentraler gemeinsamer ­Aspekt des Kantischen Projekts – Stichwort: sapere aude – einerseits und des angezielten Selbstverständnisses einer modernen Psychiatrie andererseits: In ­beiden Fällen geht es um die respektvolle Wahr­nehmung des Anderen, sei er gesund oder krank, um die Beachtung seiner Entscheidungen und Werte, in der Medizin verbunden mit dem Hauptziel, wissenschaftlich begründete und überprüfbare Konzepte in individuell justierte Behandlungspläne zu übersetzen.
Immanuel Kants kategorischer Imperativ macht die grundlegende Ausrichtung der Aufklärungsphilosophie mit Blick auf das Autonomiekonzept in prägnanter Weise deutlich. In der Grundlegung der Metaphysik der Sitten fordert Kant:
«Handle so, dass du die Menschheit, sowol in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchst.» [11, S. 429].
Am Ende des Zitates kommt die Autonomie ins Spiel: Immer dann, wenn ich es mit einer anderen Person zu tun habe – und dies gilt selbstverständlich auch für die Beziehung zwischen Arzt und Patient – habe ich zu respektieren, dass deren Befinden, Denken und Handeln niemals ausschliesslich dazu dienen darf, ­einen beliebigen äusseren Zweck zu erreichen. Vielmehr ist diese Person selbst zu einem wesentlichen Teil Zweck meiner Aktivität. Konkreter ausgedrückt: Es geht in Interpersonalbeziehungen immer auch um die beteiligten Personen selbst und nicht nur um von ihnen definierte externe Ziele.
In der Medizinethik trifft man im Gedanken des ­Patientenwohles und des Respektes vor der Person ähnliche Positionen an, und zwar von der hippokra­tischen Lehre bis heute. Natürlich haben die ein­schlägigen Prinzipien immer wieder eine zeitgemässe Anpassung erfahren. Der heute international am breitesten akzeptierte Ansatz, eine Form der Prinzipien­ethik, gibt vier zentrale Elemente vor: den Respekt vor der Autonomie des Patienten, das Gebot, nicht zu schaden, das Gebot, zum Wohl des Patienten zu handeln und das Gebot der fairen Verteilung von Nutzen, Risiken und Kosten im Gesundheitswesen [12, 13]. Wie aber können sich diese Prinzipien in der Praxis bewähren?

Von der Theorie zur Praxis – und zurück: Autonomie muss «personalisiert» ­werden1

Beim Übergang von der ideengeschichtlich-ethischen zur praktischen Sphäre betritt man schwieriges Terrain und merkt rasch, dass sich auch scheinbar selbstverständliche Begriffe bei näherer Untersuchung gegen ihre vereinfachende Verwendung, gegen wohlfeile Lösungen «wehren». Wie kann es dann aber gelingen, komplexe philosophische Inhalte wie die personale Autonomie dergestalt in einen medizinischen Kontext einzubringen, dass sie in Entscheidsituationen praxisrelevant werden? Ist, so ein alltägliches Beispiel aus der Akutpsychiatrie, bei einer schwer psychotischen, kommunikativ kaum noch erreichbaren Person, die sich selbst gefährdet, die Anwendung von Zwang ­erlaubt, geboten oder unzulässig? Wer entscheidet ­darüber? Hier stellen sich stets auch grundsätzliche Fragen, etwa diejenige nach der Berechtigung und ­allenfalls dem Grad der Generalisierbarkeit eines sich auf die Aufklärung berufenden, «eurozentrischen» Menschenbildes und der aus diesem abgeleiteten Menschenrechte [14]. Dieser Argumentationsstrang kann hier nicht vertieft werden.
Auch mit Blick auf den (akut-)psychiatrischen Alltag verspürt einige Skepsis, wer die jüngere Literatur zur Rolle ethischer Prinzipien in therapeutischen Entscheidungsprozessen konsultiert. Ein Beispiel ist das pessimistische Votum von Bloch und Green [15]:
«Psychiatry has not reached a consensus hitherto concerning an optimal theoretical framework for ethical deci­sion-making and corresponding action. Various theories have been considered, but found wanting. Moreover, classic theories may contradict one another, contribute to confusion and immobilise the clinician.»2 (S. 7)
Nun darf gerade eine skeptisch-kritische Grund­haltung nicht zum Stillstand der Debatte führen. ­Hilfreich ist die Erkenntnis, dass «monolithische» Auto­nomiekonzepte, die diesen Begriff gleichsam ­unangreifbar an die Spitze der medizinethischen Pyramide stellen, in praxi nicht anwendbar sind, ja sich schädlich auswirken können. Vor diesem Hintergrund kristallisieren sich konsensfähige Positionen heraus, von denen drei genannt seien:

1. Die Autonomie gibt es nicht

Autonomie ist im heutigen medizinischen Alltag, ­gerade auch in der Psychiatrie, ein oft allzu wohlfeiler Begriff: Man benutzt ihn fast schon als Routine, glaubt sich dadurch auf der «richtigen» ethischen Seite und übersieht, dass dieser Begriff durchaus Unterschied­liches meinen kann, je nachdem, auf welchen theoretischen Hintergrund er sich beruft. So liegen die Akzente im Falle einer an Kant orientierten deontologischen (Pflicht-)Ethik anders als bei einer Prinzipienethik ­hippokratischer Prägung, auch in der erwähnten zeitgemässen Fassung nach Beauchamp und Childress [12]. Nochmals anders gelagerte Schwerpunkte setzen die jüngst viel diskutierten Konzepte «ethics of care», «narrative Ethik» und «relationale Autonomie». Da diese Ansätze Eingang in psychiatrische Diskurse finden, seien ihre Grundgedanken skizziert.

Ethics of care (Care-Ethik)

Ethische Wertmassstäbe sind in dieser Perspektive keine nur theoretisch begründeten, unabhängig von der konkreten Umsetzung gegebenen Konstanten, sondern entstehen wesentlich im jeweiligen Kontext eines Betreuungsprozesses, vor allem in der interpersonal konstellierten Beziehung zwischen Patient und Betreuer. Die ethische Debatte wird dadurch in pragmatischer Weise kontextualisiert und bezieht ausdrücklich das Wohlbefinden aller Beteiligten ein, also nicht «nur» dasjenige der betreuten Person.
Kritiker wenden ein, dieses Konzept sei wenig präzise und laufe Gefahr, unbeabsichtigt doch wieder pater­nalistische Tendenzen zu fördern. So aber könnten berechtigte Autonomieansprüche sowohl des Patienten als auch der betreuenden Person einem unkritisch überhöhten Betreuungsgedanken («Care») geopfert werden. Auch wird gefragt, ob es sich hier tatsächlich um ein neues ethisches Konzept handele oder nicht vielmehr um eine spezifische Haltung oder – ein prägnanter, aber fast schon obsoleter Begriff – um eine ­Tugend [16–18].
Dem ist entgegenzuhalten, dass das Konzept einer Care-Ethik keineswegs in einen grundsätzlichen Widerspruch zur Patientenautonomie geraten muss. Ein solcher ist nämlich genau dann zu vermeiden, wenn auch der Autonomiegedanke – unbeschadet seiner heraus­ragenden Bedeutung – nicht als absoluter Wert verstanden wird, sondern als Element einer auf wechselseitiger Anerkennung beruhenden Interpersonal­beziehung. Untauglich, ja irreführend ist daher die ­Position, eine erkrankte Person sei entweder autonom oder eingebunden in für ihre Lebensführung wichtige Beziehungen. Vielmehr bleibt sie – wie jeder gesunde Mensch auch – eine im Grundsatz autonome Person, deren Lebensvollzüge notwendig vor dem ­Hintergrund konstitutiver Interpersonalbeziehungen geschehen.

Narrative Ethik

Dieser Ansatz hebt, wie die Care-Ethik, hervor, dass ethische Prinzipien keine Absoluta sind, sondern inter­personal verhandelbare und zu verhandelnde Gegenstände. Mit dem Prinzip der individuellen Verhan­delbarkeit geht eine narrative Ethik insofern über die diesbezüglich weniger dezidierte Care-Ethik hinaus, als konkrete, also auf den Werthorizont der erkrankten Person bezogene Themen und Konflikte ins ­Blickfeld geraten. Eine straffe, gleichsam apriorische Prinzi­pienethik müsse hier zu kurz greifen, erreiche das ­Individuum gerade nicht. Es bedürfe vielmehr ­einer «narrativ» erarbeiteten ethischen Position, die die ­Lebensgeschichte und Wertorientierung des betreuten Menschen respektvoll und interaktiv in den Mittelpunkt stelle [19, 20].

Relationale Autonomie

Durchaus überlappend, aber nicht identisch mit den beiden letztgenannten Ansätzen betont das Konzept der relationalen Autonomie den Umstand, dass sich Autonomie zwar jeweils an einer einzelnen Person zeigt und insoweit auch als individuelle Fähigkeit verstanden werden kann, dass sie aber, um konkrete Wirk­samkeit zu entfalten, in einen Beziehungskontext eingebettet sein muss, letztlich also relationaler Natur ist [21]. Prägnanter ausgedruckt: Individuelle Autonomie setzt die Beziehung zum autonomen Anderen voraus.3 Hier besteht eine inhaltliche Nähe zu der von Axel Honneth vertretenen, sozial­philosophisch einfluss­reichen Anerkennungsethik [22, 23].
Während diese theoretische Perspektive gerade mit Blick auf den Charakter der Arzt-Patienten-Beziehung zu überzeugen vermag, so tun sich doch – ähnlich wie im Falle der Care-Ethik – bei der Reflektion auf die Umsetzung eines solchen Ansatzes im medizinischen Alltag Fragen auf [24]. Dies gilt speziell für die als Autonomie des Selbst bezeichnete Variante einer relational verfassten Ethik. Sie wendet sich dezidiert gegen die Überbewertung von zeitlich und situativ isoliert betrachteten Patientenentscheidungen und fordert den umfassenden ­Ein­bezug des (auch langfristigen) Lebenskontextes der ­betroffenen Person, vor allem ­hinsichtlich ihrer Iden­tität und überdauernden Werthaltungen («Selbst»). Wie aber, so der skeptische Einwand, ist sicher­zustellen, dass sich nicht doch ein ­starker Pater­nalismus etabliert, etwa wenn ein Arzt nur unter ­Be­rufung auf zwar biographisch verankerte, in der ­aktuellen medi­zinischen Entscheidsituation vom ­(allenfalls fraglich) urteilsunfähigen Patienten aber ausdrücklich abgewiesene Grundhaltungen eine indizierte Behandlung trotz Ablehnung oder gegen ­Widerstand durchführt?

2. Die Balance ethischer Prinzipien als Ziel

Wird auf das heute am breitesten akzeptierte Modell einer Prinzipienethik Bezug genommen, so kommt es im Einzelfall entscheidend darauf an, zwischen den zu beachtenden Prinzipien eine begründete Balance zu finden. Anders ausgedrückt: Die gleichsam auto­matische, i.e. nicht je hinterfragte Privilegierung eines Prinzips ist inakzeptabel, auch im Falle der Patientenautonomie. Es wirkt daher wie der Versuch einer ­mässigenden Korrektur, wenn in der Literatur vermehrt darauf hingewiesen wird, dass bei allem Respekt für die zentrale Bedeutung der Autonomie doch die Gefahr besteht, dieses Prinzip mit negativen Folgen für die erkrankte Person zu überdehnen [25, 26]. Selbstverständlich stellt sich die anspruchsvolle Aufgabe der patientenzen­trierten Balancierung nicht nur im Falle der Prinzi­pienethik, sondern bei jedem ethischen Ansatz.

3. Autonomie muss sich konkret ­bewähren

Letztlich geht es in der Medizinethik um Reflektionen und Empfehlungen, die sich in der spannungsreichen Realität des Einzelfalls zu bewähren haben. Auf dieses Ziel hin, das man in einem bestimmten Sinne Personalisierung nennen darf 4, sollten alle ethischen Begriffe und Prozeduren ausgerichtet werden, auch im Kontext der Autonomie. Zur Erläuterung bietet sich ein weiterer Rückgriff auf Kant an: Eine der Kernaussagen seiner Erkenntnistheorie ist, dass theoretische Begriffe und empirische Anschauung keine unversöhnlichen Gegensätze sind, sondern sich – vor allem hinsichtlich der Fundierung von Wissenschaft – geradezu wech­selseitig bedingen. In der Kritik der reinen Vernunft drückt er dies deutlich aus:
«Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus, so dass weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne ­Begriffe, ein Erkenntnis abgeben können. … Gedanken ohne ­Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.» [27, S. 74/75]
Angewandt auf den jetzigen Kontext, ergibt sich folgende Polarität: Ein Autonomiebegriff, der in der Sphäre abstrakter Reflektion verbleibt und nicht durch den empirischen Handlungsdruck medizinischer Entscheidungssituationen angereichert wird, ist ­unverbindlich, gleichsam «leer», ja er kann durchaus zum Risiko für die betroffene Person werden. Um­gekehrt wird klinisches Handeln, sofern es ohne ­Reflektion über seinen ethischen Kontext geschieht, Einzelsituationen und Einzelmeinungen systematisch überschätzen. Es wird dann im Empirischen verhaftet bleiben, im Kantischen Sinne «blind» sein und damit ebenfalls ein Risiko darstellen.
Um zu verdeutlichen, wie eine patientenzentrierte Konkretisierung des Autonomieprinzips umgesetzt werden kann, seien exemplarisch die therapeutische Beziehung erwähnt sowie intensiv diskutierte jüngere Entwicklungen, nämlich die Patientenverfügung, das Konzept «advance care planning» und die nach vollständiger Überarbeitung Ende 2015 erschienenen ­medizin-ethischen Richtlinien «Zwangsmassnahmen in der Medizin» der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW).

Therapeutische Beziehung

Der «Ort», an dem psychiatrische Diagnostik und ­Therapie geschieht und an dem sich Autonomie realisiert (oder eben nicht), ist die Beziehung zwischen ­Patient und Behandler. Besonders konsequent, ja in ­einem bestimmten Sinne radikal hat Karl Jaspers dies durchdacht, wenn er sich zum Autoritätsgefälle in der therapeutischen Beziehung und zu dessen Folgen für die interpersonale Kommunikation äussert:
«Im Umgang des Arztes mit dem Patienten ist […] die Situation der Autorität gegeben, die wohltätig wirksam sein kann. Wenn in seltenen Fällen die echte Kommunikation erreicht wurde, so ist diese sogleich wieder verloren, sofern nicht auf Autorität rest­los verzichtet wird. […] Die Haltung der Autorität ist wie die des Naturforschers ein Glied, aber nie das Ganze in der Stellung des Arztes zum Kranken.» [28, S. 673]
Es ist offenkundig, dass Jaspers hier ein Idealbild ­zeichnet, nämlich das einer vollständig «auf Augenhöhe» ablaufenden Kommunikation zwischen Patient und Behandler, «autoritätsfrei» in seinem Sinn5. Aber auch wenn ein solches Ideal in der praktischen psychiatrischen Tätigkeit schwer erreichbar sein dürfte, so kann es doch die Funktion eines Orientierungspunktes, einer Richtschnur übernehmen. Die Personali­sierung des Autonomieprinzips bestünde hier in der tatsächlich vollzogenen wechselseitigen Respektierung innerhalb der therapeutischen Beziehung.6

Patientenverfügung

Auch die Patientenverfügung, «advance directive» im englischsprachigen Raum, stellt ein im Grundsatz ­probates Mittel dar, Personen mit oder ohne eigene ­Erfahrung mit psychischen Störungen die Möglichkeit zu eröffnen, im Vorhinein für den Fall einer die ­Urteilsfähigkeit beeinträchtigenden Erkrankung ihre Werthaltungen und bevorzugten Behandlungsoptionen verbindlich festzuhalten. In praxi generiert dieses noch junge Rechtsinstitut allerdings gerade im psychiatrischen Bereich eine Reihe von Fragen: Wie kann der Behandler im Falle akuter Erkrankungen von der Existenz einer Patientenverfügung erfahren? Nach welchen Massstäben wird beurteilt (vor allem in hektischen Akutsituationen), ob eine vor Jahren verfasste Patientenverfügung noch dem aktuellen Willen der betroffenen Person entspricht? Wie ist der Umgang mit dem prozedural sowohl recht formalen als auch komplexen Instrument der Patientenverfügung so zu gestalten, dass es für möglichst viele Personen nutzbar wird? Patientenverfügung und Patientenautonomie zielen in dieselbe Richtung und verweisen aufein­ander, können sehr wohl aber auch zu Widersprüchen und ethischen Dilemmata führen [30].
Derartige offene Fragen mögen Gründe dafür sein, dass die Patientenverfügung nur zögerlich Eingang in den akutpsychiatrischen Bereich findet. Kritisch kommentiert wird häufig der Umstand, dass die rechtliche Verbindlichkeit einer Patientenverfügung bei fürsorgerisch untergebrachten Patienten – und nur bei diesen – vom Bundesgesetzgeber eingeschränkt wurde, insoweit sie hier lediglich «zu berücksichtigen» und nicht zwingend umzusetzen ist7. Ob dies im ­wohlverstandenen Interesse schwer psychisch kranker Menschen liegt oder, genau gegenteilig, sie von ­Gesetzes wegen diskriminiert, ist Gegenstand kontroverser Debatten.

Advance care planning

Das aus der somatischen Medizin stammende und bislang vor allem im englischsprachigen Raum beachtete Konzept «advance care planning» setzt an den bekannten oder absehbaren Schwachstellen der Patienten­verfügung an. In Grossbritannien hob das Royal College of Physicians hervor, wie entscheidend es sei, bei der gemeinsam mit dem Patienten vorgenommenen Planung von medizinischen und pflegerischen Interventionen sowohl komplizierte rechtliche Formulierungen als auch unangemessen vereinfachende Fragen im multiple-choice-Stil zu vermeiden. Auch sei der Fokus nicht nur auf technische Details der Intervention oder des zu erzielenden Behandlungsergeb­nisses zu legen, sondern mindestens ebenso prominent auf die Art und Qualität der kontinuierlichen Kom­munikation mit der betroffenen Person. Advance care planning könne nicht, so heisst es zugespitzt, ­alleine auf ausgefüllten Fragebögen beruhen [31, 32]. Die ­Über­tra­gung des advance care planning-Modells auf psychia­trische Kontexte erscheint mit Blick auf die erforder­liche Individualisierung des Autonomiekonzeptes viel­versprechend.

SAMW-Richtlinien «Zwangsmassnahmen 
in der ­Medizin»

Diese von einer interprofessionellen Arbeitsgruppe verfassten Richtlinien [33] dienen zum einen dazu, den begrifflichen Rahmen von Zwangsmass­nahmen abzustecken, indem sie dem aktuellen Wissensstand entsprechende medizinische, ethische und rechtliche ­Aspekte erörtern und gewichten. Zum anderen soll ein nachhaltiger kritischer Diskurs zum weiten Feld medizinischer Zwangsmassnahmen gefördert werden, und zwar nicht nur wissenschaftlich-theo­retisch, sondern am Ort des Geschehens selbst, also etwa in den psychiatrischen Institutionen und, nicht zuletzt, in der Aus-, Weiter- und Fortbildung von An­gehörigen der Gesundheitsberufe.
Zwang darf, so eine der Kernaussagen der Richtlinien, niemals als routinemässiger Bestandteil medizinischen (ergo auch nicht psychiatrischen) Handelns ­verstanden werden, sondern stets als an enge, klar ­definierte und überprüfbare Kriterien geknüpfte, begründungspflichtige Ausnahme. Auch darf der Umstand, dass es allgemein akzeptierte Richtlinien gibt, keinesfalls dazu führen, dass die einzelne medizinische Fachperson das Thema als weniger problematisch, da ja formal geregelt, versteht und gleichsam die Verantwortung für Entscheide an die Richtlinien delegiert8.

Autonomie und Generationenperspektive

Es liegt auf der Hand, dass Fragen im Kontext von ­Autonomie deutlich an Komplexität gewinnen, wenn nicht «nur» Behandlungsentscheide für eine einzige Person zu treffen sind, sondern wenn es darum geht, das familiäre oder sonstige soziale Umfeld einzu­beziehen. Letzteres ist ja geradezu ein Qualitäts­merkmal einer zeitgemäss vernetzten psychiatrischen Versorgung und sollte daher eher die Regel als die ­Ausnahme sein. Speziell herausfordernde Fragen ergeben sich, wenn es um den Einbezug der Meinungen und Werthaltungen verschiedener Generationen geht. Zwei klinische Beispiele aus dem jugend- und alterspsychiatrischen Bereich sollen dies illustrieren.

Kinder- und Jugendpsychiatrie

Man nehme den Fall, ein urteilsfähiger 16-jähriger ­Jugendlicher wünsche wegen einer zugespitzten Krisensituation mit sich aufdrängenden suizidalen Gedanken den sofortigen Eintritt in eine psychiatrische Klinik, seine Eltern hingegen seien strikt dagegen. Hier ergibt sich mit Blick auf die Generationenperspektive der folgende Wertkonflikt: Auf der einen Seite steht die Autonomie des urteilsfähigen Jugendlichen, auf der anderen Seite das bei nicht volljährigen Personen gesetzlich verankerte Aufenthaltsbestimmungsrecht als Bestandteil der elterlichen Sorge (Art. 301 ZGB). In beiden Fällen handelt es sich um ethisch wie rechtlich wohl begründete Ansprüche, die sich im Einzelfall allerdings diametral widersprechen können.
Um eine weitere Dimension komplizierter wird die Lage, wenn lediglich die involvierte psychiatrische Fachperson den Klinikeintritt dringend empfiehlt, aber sowohl der Jugendliche als auch seine Eltern dies kategorisch ablehnen. In dieser Situation kann von Behandlerseite eine fürsorgerische Unterbringung erwogen werden, wenn sich aus dem psychischen Zustand unmittelbare Gefährdungsmomente für die Person selbst oder für Dritte ergeben. Käme es zu einer fürsorgerischen Unterbringung, so kollidierte diese unmittelbar mit elterlichen Rechten, eine Situation, die bis hin zum vorübergehenden Entzug des Sorgerechtes durch die zuständige Behörde ­eskalieren kann. Bemerkenswert ist, dass nach dem – freiwilligen oder per fürsorgerische Unterbringung angeordneten – Klinikeintritt des Jugendlichen bei Entscheidungen zur psychiatrischen Behandlung dessen Wille eindeutig vorgeht, sofern er urteilsfähig ist. Anders formuliert: Eine Behandlung gegen den Willen einer urteilsfähigen Person (auch wenn sie minder­jährig ist) ist unzulässig.9, 10

Alterspsychiatrie

Ein anders gelagerter, aber nicht minder schwieriger Wertkonflikt ergibt sich im Bereich der Alterspsychia­trie, wenn ein mittelgradig dementer Patient durch heftige Auseinandersetzungen in seinem familiären Umfeld stark belastet wird. Hier stellt sich die Frage, ob die Behandler mit Verweis auf die trotz der kognitiven Beeinträchtigung zu respektierende Autonomie des Patienten ihn dem Konflikt und dem damit verbundenen Entscheidungsdruck in vollem Umfang aussetzen oder ob sie, allenfalls sogar gegen den Patientenwillen, eine Beistandschaft empfehlen, um ihn vor einer risikoreichen Überforderung zu schützen. Es kann auch in diesem Fall keine pauschale Handlungsanweisung geben. Zu bedenken ist in solchen klinisch häufigen Situationen jedoch das Risiko, dass ein pla­kativer Autonomiebegriff seinerseits zum ethisch ­fragwürdigen Schutzschild wird, um medizinischen Fachpersonen konfliktträchtige Stellungnahmen und Entscheidungen zu ersparen.
Beide Beispiele zeigen, wie sehr ethische Fragestellungen, wenn sie ernst genommen werden, in das beruf­liche Selbstverständnis psychiatrischer Fachpersonen eingreifen – mit entsprechenden Folgen für die konkrete klinische Arbeit und völlig unabhängig von der Lebensphase, in der sich die betreute Person befindet.

Wozu ein interdisziplinärer Dialog ­zwischen Psychiatrie und Philosophie?

Die komplexe Schnittstelle zwischen Psychiatrie und Ethik kann, wenn sie nicht von beiden Seiten aktiv ­gepflegt wird, durchaus zu Verunsicherung führen und Spannungen generieren. Dies ist etwa dann zu ­beobachten, wenn ethische Argumente von Klinikern nur als Kritik oder Einmischung von aussen erlebt ­werden: Hier kommt es zu einer Unterschätzung, im schlimmsten Fall sogar zu einer systematischen ­Abwertung des ethischen Feldes. Dessen unbedachte Überschätzung, quasi den umgekehrten Fall, gibt es freilich ebenso, wenn sich nämlich Kliniker dadurch entlasten zu können glauben, dass sie heikle Therapieentscheide, bei denen das Abwägen von Werten im ­Vordergrund steht, möglichst weitgehend an eine Fachperson, an «den Ethiker» delegieren.
Selbstverständlich sind Medizin und Ethik unterschiedliche Wissens- und Handlungsgebiete. Aber sie verweisen notwendig aufeinander, und im besten ­Fall befruchten sie sich gegenseitig. Daher sei ab­schlies­­send die Bedeutung eines substantiellen und nach­haltigen interprofessionellen Dialoges zwischen Me­­di­zin und Philosophie, deren Teilgebiet die Ethik ist, anhand eines prägnanten Beispiels hervorge­hoben. Dieses Beispiel ist die bereits mehrfach an­gesprochene Interpersonalität, ohne Frage ein Kernstück psychiatrischen Arbeitens, aber eben auch ein zentrales Thema der Philosophie.
Während es der frühen Aufklärung um die Stärkung des Individuums gegenüber überbordenden Macht­ansprüchen staatlicher oder kirchlicher Institutionen ging, um die Verbreitung von Wissen und Kritikfähigkeit als systematische Kontrapunkte gegen Bevormundung und Manipulation, geriet in den philosophischen Ansätzen Immanuel Kants (1724–1804) und, zugespitzt, ja in bestimmter Hinsicht radikal weiter gedacht, ­Johann Gottlieb Fichtes (1762–1814) die Bedeutung der anderen, ebenfalls freien Person für die Realisierung von Autonomie immer mehr in das Blickfeld [35, 36]. Prägende Autoren wie Karl ­Jaspers (1883–1969), Arthur Kronfeld (1886–1941) oder Martin Buber (1878–1965) setzten diese Tradition im 20. Jahrhundert fort. Sie wandten sich, wenn auch aus je unterschiedlicher Perspektive, a limine gegen die Reduzierung des Psychischen auf nur eine Erkenntnisebene und hoben den notwendig interpersonalen Charakter menschlichen Verhaltens, auch im Kontext psychiatrischer Behandlungen, hervor [28, 37–39].
Die heutige psychiatrische Forschungs- und Theorienlandschaft bedarf einer methodenkritischen, philo­sophisch informierten Grundhaltung mehr denn je. Die aktuell dominierende Dritte-Person-Perspektive ist zwar speziell für die neurowissenschaftliche Grundlagenforschung unentbehrlich, doch bleibt sie angewiesen auf die Einbettung in die Erste- und Zweite-­Person-Perspektive. Nur diese können die subjektive und interpersonale Dimension psychopathologischer Phänomene erfassen, etwa mit Blick auf paranoides ­Erleben, depressive Gehemmtheit, lähmende Zwangsgedanken oder ein das Handlungsfeld trichterförmig einengendes süchtiges Verlangen.
Der geforderte kritische Dialog zwischen Psychiatrie und Philosophie hat gerade nicht auf wohlfeile, scheinbar abschliessende Antworten abzuzielen. Einer ex ­cathedra-Haltung sollte er so fern wie möglich stehen, um sich verantwortlich seiner zentralen Aufgabe zu widmen, nämlich voreiligen Festlegungen und dog­matischen Verkürzungen entgegenzutreten oder, aus erkenntnistheoretischer Perspektive, die Grenzen der explikativen Kraft einzelner wissenschaftlicher Ansätze zu benennen. Genau hier liegt für unser Fach die oft angezweifelte Praxisrelevanz philosophischer Reflektion. Karl Jaspers hat diesen Gedanken meisterhaft verdichtet:
«Der Psychopathologe braucht sich um Philosophie nicht des­wegen zu kümmern, weil sie für ihn für seine Wissenschaft ­irgend etwas Positives lehrte, sondern weil sie ihm den inneren Raum freimacht für seine Wissensmöglichkeiten.» [28, S. 40]

Résumé

Der zentrale Inhalt dieser Arbeit lässt sich in vier Thesen zusammenfassen:
1. Autonomie ist (und bleibt) ein psychiatrischer Kernbegriff. Dies gilt in psychiatriehistorischer Perspektive (Stichwort: ­Aufklärung) ebenso wie mit Blick auf das heutige Selbst­verständnis unseres Faches und aller beteiligten Personen (Stichwort: ­Respektvoller Umgang).
2. Autonomie ist kein bequemer, sondern ein notwendig sper­riger Begriff, der ohne vertiefte und kontinuierliche interpro­fessionelle Debatte keine wirkliche Akzeptanz und damit Relevanz in der psychiatrischen Praxis erreichen wird. Kantisch formuliert: Als wohlklingende Worthülse wird Autonomie zu ­einem «leeren» Begriff, als Ausdruck unreflektierter Verlagerung von Verantwortung auf Patienten zu einem «blinden». Beide ­Varianten sind unethisch, denn sie schaden der erkrankten ­Person.
3. Wege zur «Personalisierung» von Autonomie müssen im ­gesamten Feld der Psychiatrie vermehrt diskutiert und situa­tionsspezifisch adaptiert werden. Dies ist ein hoher Anspruch, besonders wenn zusätzlich die Mehrgenerationenperspektive ins Spiel kommt. Doch liegt hier auch eine bemerkenswerte Chance für das Fach. Die systematische Implementierung dieser ­Fragen in das universitäre medizinische Curriculum sowie in die ärztliche Weiter- und Fortbildung hat ­tragende Bedeutung, nicht zuletzt mit Blick auf die ärztliche Identität der Psychiatrie.
4. Eine substantielle Auseinandersetzung unseres Faches mit philosophischen Fragen ist keineswegs l’art pour l’art. Sie adressiert vielmehr den Kern psychiatrischer Arbeit und ist damit ­unabdingbar.
No financial support and no other potential conflict of interest ­relevant to this article was reported.
Prof. Dr. med. Dr. phil.
Paul Hoff
Psychiatrische ­Universitätsklinik Zürich
Klinik für Psychiatrie, ­Psychotherapie
und ­Psychosomatik
Lenggstrasse 31,
Postfach 1931
CH-8032 Zürich
paul.hoff[at]puk.zh.ch
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