Vertrauen in Beziehungen
Vertrauen ist nicht gegeben, sondern aufgegeben. Es wird in Beziehungen immer wieder erarbeitet.

Vertrauen in Beziehungen

Review Article
Issue
2017/01
DOI:
https://doi.org/10.4414/sanp.2017.00464
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2017;168(01):0

Published on 18.01.2017

Einführung

Drei Beispiele sollen einleitend zeigen, wie notwendig, aber auch verletzlich Vertrauen ist, und auf die ­Fragen hinführen, die das Thema des Beitrags ausmachen ­werden.
Erstes Beispiel: «Die meisten Flüchtlinge hatten Krieg und Verfolgung erlebt. Sie kamen voll hoher Erwartung in das Asylland Schweiz. Menschen mit oft völlig anderen Lebens­gewohnheiten und -bedingungen, dem Heimat­boden völlig entrissen, bis in tiefste Schichten aufgewühlt, hilflos einem übermächtigen Geschehen ausge­liefert, suchten sie Zuflucht in der Schweiz. […] Viele mussten jahrelang in Lagern und Heimen mit fremden Menschen zusammenleben, an die sie häufig keine ­inneren Bindungen besassen. Zu den früher erlittenen Schäden kam durch diesen Zwangsaufenthalt eine neue schwere Belastung, nicht zuletzt eine solche der erotischen Intimsphäre des einzelnen.» [1]
Dieser Text, der so gegenwärtig klingt, stammt aus ­einer Arbeit der Psychoanalytikerin und Leiterin des Psychotherapeutischen Dienstes der Eidgenös­sischen Zentral­leitung der Heime und Lager in Zürich in und nach dem zweiten Weltkrieg, Maria Pfister ­Ammende. Flüchtlingsschicksale, heute nicht anders als vor 70 Jahren, zeigen, was es bedeutet, Vertrauen zu verlieren – in das Heimatland, in die Menschen, die ­einem auf der Flucht vorgeblich helfen, und schliesslich in das Gastland. Was können wir tun, um es neu zu schaffen?
Zweites Beispiel: Ich führe ein Erstgespräch mit einer Frau, die einen ­Suizidversuch gerade noch überlebt hat. Sie war aus ­allen Wolken gefallen, als sie erfahren musste, dass ihr Ehemann, der Arzt ist, schon längere Zeit ein in­times Verhältnis zu seiner Sprechstundenhilfe unterhält. Die Patientin stammt aus Lebensverhältnissen, in denen Männer immer höchst unzuverlässig waren. Warum aber kann sie mir, einem ihr unbekannten männlichen Arzt, der lauter Eigenschaften in sich vereinigt, die ihr zur Qual geworden sind, so viele persönliche Details erzählen und sich vertrauensvoll an mich ­wenden? Was kann ich dafür tun, dass ich mir diesen offensichtlichen Vorschuss an Vertrauen auch verdiene? Wie könnte ich ihn wieder verspielen?
Drittes Beispiel: Wir haben uns in der Psychiatrie Baselland vor einigen Jahren entschlossen, die eigenen Strukturen spürbar zu transformieren. Wir konnten während dieses Prozesses lernen, wieviel gelingen, wieviel aber auch ­verkehrt laufen kann. Einerseits setzt ein Verän­derungsmanagement Vertrauen voraus. Entscheidend aber ist andererseits auch, ob es gelingt, Vertrauen bei den Mitarbeitenden zu schaffen, ob der Prozess selbst Vertrauen wachsen oder neu entstehen lässt. Allgemeiner gefragt: Was ist notwendig, damit ein institutioneller Umwandlungsprozess zu einer vertrauensbildenden Massnahme wird?
In allen drei Beispielen geht es um Vertrauen: um den Verlust des Vertrauens in die Lebensverhältnisse, die einen umgeben, um das Vertrauen in der Psychotherapie und schliesslich um die Notwendigkeit, in ­beruflichen Beziehungen Vertrauen haben zu können.

Definitionen und Abgrenzungen

Wodurch ist Vertrauen in psychologischer Hinsicht charakterisiert? Handelt es sich um eine Emotion? ­Offenbar ist Vertrauen mit starken Gefühlen ver­bunden, aber diese Gefühle wechseln nicht rasch wie ­mancher spontane Affekt. Wird die Zeitdimension ­berücksichtigt und Vertrauen als langlebiges Gefühl angesehen, dann passt es besser, von einer «Gefühlshaltung» [2] oder von «affective attitude» [3] zu sprechen. Dass Vertrauen eine historisch wandelbare ­Gefühlshaltung ist, das sei hier nur erwähnt (zur ­Vertiefung: [4]).
Was aber zeichnet das Vertrauen inhaltlich aus? Eine Kontrastierung durch Gegenbegriffe bietet sich an. Sie hält unterschiedliche und zum Teil überraschende Antworten bereit.
Zunächst scheint auf der Hand zu liegen, dass Vertrauen und Misstrauen einander entgegengesetzt sind. Sie haben gleichwohl viel gemeinsam: Beide struk­turieren die Sicht auf die Welt, wenn auch mit ent­gegengesetzten Vorzeichen; beide reduzieren – in den Worten des Soziologen Niklas Luhmann [5] – die Komplexität der sozialen Kommunikation. Im Misstrauen, wenn gegenüber anderen Menschen vielfältiger Verdacht gehegt wird, verengt sich die Beziehung zu anderen, Vertrauen vereinfacht das Leben ebenfalls, indem es Zweifel an anderen stillstellt. In beiden Fällen hat die Gefühlshaltung eine sozial regulierende Funktion. Fehlendes Vertrauen ist nicht Misstrauen, dann nämlich, wenn die Dimension gar keine Rolle spielt in der zwischenmenschlichen Interaktion.
Ähnliche Akzente setzt ein zeitgenössischer Philosoph, Martin Hartmann, der Vertrauen gegen die Gleichgültigkeit abgrenzt [6]. Vertrauen und Misstrauen setzen beide Engagement in den an­deren voraus, in beiden Fällen wird, psychoanalytisch gesprochen, der andere besetzt, wenn auch mit konträrer Emotion. Gleichgültigkeit hingegen zieht Besetzung vom anderen ab.
Vertrauen ist auch der Einsamkeit gegenübergestellt worden. Edith Weigert, eine Emigrantin, die als Psychoanalytikerin aus Nazideutschland floh und in den USA bekannt wurde, bei uns aber – ein zweites Mal – vergessen wurde, sagte: «Wir sehen Vertrauen im ­dialektischen Gegensatz zu dem Schauder der Ein­samkeit stehen. […] Jede Enttäuschung wird subjektiv als teilweise Vernichtung erlebt, aber dieser Kummer wird ­gelindert in zwischenmenschlichen Beziehungen, die Erfüllung versprechen. Aufschub der Erfüllung kann ertragen werden, wenn Hoffnung und Vertrauen da sind. Aber Glaube und Hoffnung können Illusionen werden für den einsamen Menschen, der verlassen bleibt.» [7] Wenn es der Einsamkeit gegenüber gestellt wird, wird deutlich, dass Vertrauen Be­ziehung schafft und bewahrt.
Schliesslich findet sich auch die Angst als «Gegen­spieler». Die Kinderanalytikerin Ursula Seemann-de Boor bemerkte dazu: «Der wahre Gegenspieler der Angst ist nicht der Mut, sondern das Vertrauen. Vertrauen zu sich selbst, zu den Mitmenschen und in die eigentlich tragenden Kräfte des Lebens.» [8] Vertrauen wird in diesem Zitat ­dreifach ausgerichtet, auf das Selbstvertrauen, auf die Beziehung und schliesslich auf die Lebenseinstellung insgesamt. Zugleich wird es als Gefühlsqualität anschaulich: Wer Vertrauen hat, muss sich nicht fürchten.
Dass sich so viele Gegenbegriffe finden lassen, hat ­einen spezifischen Grund: Vertrauen beschreibt offensichtlich eine breitgefächerte Disposition, das Weg­fallen von Vertrauen führt nicht zu einer und nur ­einer Gestimmtheit und Gefühlslage, sondern hat ­vielfältige Auswirkungen auf die persönliche Entwicklung. Vertrauen ist eng mit der Beziehung zu anderenMenschen verbunden, wenn auch nicht ausschliesslich. Im Folgenden soll in einer ersten Eingrenzung vom Vertrauen in Beziehungen die Rede sein.

Vertrauen in Beziehungen

Ur-Vertrauen / basic trust

Auf Erik H. Erikson [9] geht der Begriff des «basic trust», des «Ur-Vertrauens», zurück. Im Deutschen kann er, wie alle Worte, die mit der Vorsilbe «Ur» beginnen, missverstanden werden als etwas, das von ­allem Anfang, von allem Ur-Sprung an gegeben ist und eine unerschütterliche Grundgegebenheit darstellt. Der englische Ausdruck ist vorsichtiger und ­benennt ein grundlegendes Vertrauen, eine Vertrauensgrundlage, die mit positiven ersten Beziehungs­erfahrungen verbunden ist, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist die umfassende und umfangende Liebe der frühen Bezugspersonen, die sie dem Kind entgegenbringen und in ihm das Gefühl einer ver­trauensvollen Einstellung in die Umwelt begründen, ein «Weltvertrauen» ([6], S. 68 ff.). Im ­Märchen ist dafür das Bild der Glückshaut gefunden worden, die bei der Geburt das Kind umgibt und die später im ­Leben Sicherheit schafft und glückende Erfahrungen ermöglicht1.
Das basale Vertrauen, das aus dem Beziehungsvertrauen stammt, wird zur Grundlage einer Selbstsicherheit, bis in die eigene Wahrnehmung und das eigene Denken hinein. Aus dem frühen Vertrauen, das von anderen kommt und zu ihnen zurückfliesst, entwickelt sich sogar ein «epistemisches Vertrauen» [11]. Das bedeutet: Was als kognitive Funktion sich verselbstständigen wird, hat seine Wurzeln im Welt­vertrauen, und das wiederum resultiert aus dem von anderen ­geschenkten Vertrauen. Die klinische Kehrseite ist aus der therapeutischen Praxis wohlbekannt: Wenn das Vertrauen verloren geht und dieser Verlust das ­Verhältnis zur Welt erschüttert, dann kann er so grund­legend werden, dass den eigenen Wahrneh­mungen und Gedanken nicht mehr getraut werden kann. So greift ein fehlendes Urvertrauen sogar die psychische Struktur an.

Vertrauen, dynamisch betrachtet

Vertrauen kann in der lebensgeschichtlichen Ent­wicklung jederzeit verloren gehen, aber auch immer neu aufgebaut werden. Dazu braucht es vertrauens­bildende Massnahmen. Vertrauen ist nicht einfach ­gegeben, sondern eine prekäre Kategorie: Es kann aufs Spiel gesetzt oder sogar zerstört werden. Aber es kann andererseits blind werden und zur Vertrauensseligkeit führen, die alles andere als selig macht. Wenn nur ­einer vertraut, sein Vertrauen aber nicht erwidert wird, dann muss er schon – um in der Märchenwelt zu bleiben – «Hans im Glück» sein, um trotz allem, trotz aller schlechten und heimtückischen Ratschläge anderer, noch glücklich zu sein. Nicht nur einmal möchte der Märchenleser Hans auf seinem Weg zu­rufen, er möge doch misstrauischer und damit vorsichtiger werden. Vertrauen muss, soll es gelingen, wechselseitig sein. Vertrauen ist ein wechselseitiges Geschenk in Beziehungen: «Wir vertrauen denen, die uns vertrauen, und wir vertrauen ihnen, indem wir auf Vertrauen, das in uns gesetzt wird, mit Vertrauen antworten.» ([12], S. 287).
Vertrauen kann zu viel, aber auch zu wenig sein, es lässt sich herstellen, kann aber wieder verschwinden. Vertrauen ist eingelassen in einen interpersonalen Prozess, in Beziehungsgeschichten, und da Beziehungen sich verändern, wird Vertrauen immer wieder auf die Probe gestellt. Anders aber kann es sich als Haltung gar nicht bilden. Vertrauen wird gerade dadurch be­stätigt, dass es herausgefordert wird. Vertrauen ist ­krisenanfällig, aber es wird durch Krisen nicht geschwächt. Vertrauen bestätigt sich nur dort, wo es auch riskiert wird. Ingolf Dalferth betont, dass nur Vertrauen, das durch Krisen hindurchgegangen ist, ernstzunehmendes Vertrauen sei. «Nur Vertrauen, das Enttäuschungen überlebt hat, ist starkes Vertrauen.» ([12], S. 283)

Zeitlichkeit und Selbstreflexivität 
des Vertrauens

Vertrauen hat eine Zeitstruktur, denn es ist auf Zukunft hin ausgerichtet. Der sogenannte Vorschuss, der mit dem Vertrauen gegeben ist, ist gleichsam eine Wette auf die Zukunft. «Wer Vertrauen erweist, nimmt Zukunft vorweg», sagt Niklas Luhmann [5]. Insofern ist Vertrauen an die Möglichkeit der Antizipation geknüpft: Ich antizipiere, ich nehme vorweg, dass der Mensch, dem ich vertraue, dieses Vertrauen auch noch in Zukunft verdienen wird, dass ich ihm weiterhin ­vertrauen kann. Aber ich kann mir dessen nicht sicher sein, auch wenn ich die gemeinsame Zukunft berechenbar machen und somit absichern möchte, weil ich doch weiss, dass Vertrauen vernichtet werden kann, wenn andere einem den Boden unter den Füssen wegziehen, indem sie Vertrauen missbrauchen. Zukunft aber lässt sich nicht kalkulieren.
Vertrauen entwickelt sich nicht durch statische Beharrlichkeit und Immo­bilität, sondern durch offene Verständigung. Die gemeinsame Selbstreflexion über die Beziehung durch die Beziehungspartner ist die Grundlage des Vertrauens, nicht das Festhalten an ­eingespielten Mustern. Dem anderen erklären können, wo man steht, warum man da steht, wo man steht, und nicht woanders, das ist entscheidend.
Vertrauen in Beziehungen hat deshalb mit Verständigungsprozessen zu tun: der andere wird mir sagen, was sich in der Beziehung zu ihm ­verändert, und ich werde es auch tun.
Diese Überlegungen machen es leichter, die Aussage von Niklas Luhmann zu verstehen: «Grundlage allen Vertrauens ist die Darstellung des eigenen Selbst als ­einer sozialen, sich in Interaktionen aufbauenden, mit der Umwelt korrespondierenden Identität.»2 ([5], S. 80)
Ich bringe meine Identität in die Beziehungen, die ich lebe, ein. Das bedeutet nicht, dass ich immer derselbe bleibe, auf den deshalb Verlass ist. Nein, die Identität, die ich habe, ist keine Idem-Identität [13], keine statische, die vorgibt, ­immer unveränderlich zu sein, ­sondern eine Ipse-Identität, eine Identität, durch ich mich in meiner eigenen Entwicklung selbst zu ver­stehen versuche und über die Zeit hin die eigenen ­Veränderungen anderen begründet darstellen kann. Ich kann dem vertrauen, der sich in dieser Weise selbst verstehen kann und der bereit ist, sein Selbstverständnis (und das heisst auch: seine Entwicklung) in die ­Beziehung einzubringen. Dann mag er oder sie sich ­ändern, aber nicht plötzlich, nicht abrupt, nicht willkürlich, sondern motiviert und offen ausgesprochen. In diesem Sinne ist es richtig zu sagen, dass die Grundlage des Vertrauens die Darstellung des eigenen Selbst ist.

Absicherungen des Vertrauens

Die Dynamik des Vertrauens zu leben, ist nicht so leicht, wie es klingt. Wir versuchen alle, Beziehungsverhältnisse berechenbarer zu machen, um so dem Vertrauensverlust vorzubeugen – aber das kann schiefgehen und so enden, dass die Absicherungs­­mass­nahmen den Anlass überschreiten und viel mehr Leid verursachen als die ursprüngliche Infragestellung.
Ein prototypisches klinisches Beispiel ist die Zwangs­neurose, die mit dem Versuch verbunden ist, wie ­Elvio Fachinelli [14] so wunderbar dargestellt hat, die Zeit still zu stellen und anzuhalten – aber nicht nur, um das Objekt zu kontrollieren, sondern auch um die eigenen Impulse zu bändigen, die gegen die Beziehung gerichtet sind – eine Perspektive, die wir im Übrigen klinisch zunehmend vernachlässigen. (Wir identifizieren uns mit der Opfer-, kaum aber mit der Täterseite unserer Patienten.)
Wenn ich die Zeit anhalte, brauche ich kein Vertrauen, weil Vertrauen immer eine Inves­tition in die Zukunft ist. Der zynische Satz «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser» stimmt freilich nicht, da die Kontrolle nicht nur bei der Zwangsstörung mehr kaputt machen kann als die Bedrohung des Vertrauens.
Vertrauen kann aber auch, gerade in sozialen Insti­tutionen, versuchsweise durch Normen und Regelungen abgesichert werden. Dadurch wird die kollegiale Be­ziehung von Aushandlungsprozessen entlastet. So wertvoll soziale Regeln und Verpflichtungen für das Zusammenleben und -arbeiten sein mögen: Sie er­set­zen Vertrauen nicht. Sie können den Mangel an Vertrauen vielleicht ein wenig kompensieren, aber sie schaffen kein Vertrauen. Verlässlichkeit, darauf hat Hartmann [6] zu Recht hingewiesen, ist mit vertrauensvollem Umgang nicht gleichzusetzen. Vertrauen braucht mehr als Vorschriften oder Routinen. Vertrauen reglementiert ja nicht, sondern lässt los, ­eröffnet Spielräume: Wenn ich dir vertraue, dann lasse ich dich machen, dann bin ich überzeugt, dass du es gut machst, wie immer du es machst. Indem das ­Vertrauen Spielräume eröffnet, wirkt es sich kreativ aus. Durch Vertrauen kann Neues entstehen.
Nicht unerwähnt bleiben soll freilich, dass es andere Formen der Absicherung des Vertrauens gibt, die nicht in den Regelwerken stecken bleiben, die einer Beziehung die Lebendigkeit austreiben. Vertrauen wird in der Tat gefestigt, nicht geschwächt, durch eine Triangulierung von Beziehungen, also durch die gemeinsame Ausrichtung auf eine dritte Instanz, die sicherstellt, dass Vertrauen zwischen Beziehungspartnern wieder aufgebaut werden kann, wenn sie denn ver­loren geht – eine Instanz, die auf der Grundlage einer gemeinsamen Übereinkunft entsteht. Diese Instanz muss nicht, wie im sozialen Bereich, wie eine Beschwerdestelle oder ein Gericht strukturiert sein. Eine solche Instanz ist schon allein das Gespräch, die in­stitutionalisierte oder versprochene Möglichkeit, sich dort zu verständigen, wo Gewohnheiten und Vertrautheiten gefährdet sind.

Zusammenfassung der Merkmale des Vertrauens 
in Beziehungen

– Vertrauen ist nicht gegeben, sondern aufgegeben. Das heisst: Vertrauen wird in Beziehungen immer wieder hergestellt oder erarbeitet.
– Vertrauen ist ein Geschenk, das sich Beziehungspartner wechselseitig machen, eine Gabe, die sich nicht kalkulieren lässt.
– Vertrauen als Gabe lässt dem, dem vertraut wird, Freiheit. ­Dadurch wird Vertrauen kreativ.
– Vertrauen lässt sich nicht absichern, es sei denn durch die ­gemeinsame Reflexion auf sein Scheitern.

Vertrauen in therapeutischen ­Beziehungen

Es ist nicht selbstverständlich, dass sich vertrauensvolle Beziehungen in Therapien überhaupt entwickeln können. Der Therapeut muss in der Lage sein, Vertrauen zu haben und zur Verfügung zu stellen, und ­natürlich ebenso und gerade auch die Patientin. ­Immer neu berührt die Tatsache, dass Menschen sich einem Therapeuten oder einer Therapeutin anvertrauen, die in ihrer Beziehungsgeschichte kaum Grundlagen für Vertrauen schaffen konnten, wenn sie also – um den bereits diskutierten Begriff noch ­einmal zu nutzen – wenig oder kein «basic trust», kein grundlegendes Vertrauen mitbringen. Daher wird im Folgenden geklärt, was es braucht, damit Vertrauen in therapeutischen Beziehungen geschenkt werden kann, zunächst auf Therapeuten-, dann auf ­Patientenseite.

Das Vertrauen des Therapeuten

Unter welchen Voraussetzungen auf Seiten des Therapeuten kann Vertrauen entstehen? Zu unterscheiden ist ein methodologisches Selbstvertrauen von einem Vertrauen in den anderen.

Methodologisches Vertrauen

Am Anfang steht das Vertrauen in die eigene Methode. Aus der Therapieforschung ist bekannt, dass die Adhärenz von Therapeuten an die angewandte Therapie­methode ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist. Der Therapeut setzt eine Therapiemethode nur dann lebendig um, wenn er von ihr überzeugt ist und sich zutraut, sie zu beherrschen. Das klingt selbstverständlich und könnte nahelegen, dass das Wort Vertrauen an dieser Stelle überstrapaziert würde. Dass dem nicht so ist, zeigt sich aber gleich, wenn die Zukunftserwartung, die im methodologischen Vertrauen enthalten ist, mitgedacht wird.
Die psychoanalytische Grundhaltung der freischwebenden Aufmerksamkeit des Therapeuten setzt Vertrauen in oder den «Glauben» an die ­Methode in dem Sinn voraus, in dem W. R. Bion von «faith» spricht (vgl. dazu [3]). Glaube ist hier keine religiöse Dimension, aber ein einigermassen unerschütterliches Vertrauen darauf, dass alles, was im Rahmen der Therapie geschieht, recht sein wird, dass auch dort, wo die the­rapeutische Beziehung sich überraschend und theo­retisch unvorhersehbar entwickelt, es möglich sein wird voranzuschreiten, mit der Zuversicht, das, was ­geschieht, nachträglich auffangen und aufbereiten zu können. Dieses methodologische Vertrauen resultiert aus der psychoanalytischen Grundüberzeugung, dass die Wahrheit der therapeutischen Erkenntnis sich im gemeinsamen therapeutischen Arbeiten immer ent­wickeln wird, wenn es nur möglich ist, sich diesem Prozess zu überlassen und zuversichtlich zu sein, dass er irgendwann für beide verständlich wird. Hier kommt für einmal Vertrauen vor Verstehen [16].

Vertrauen in den Patienten

Vertrauen ist ein wechselseitiges Geschenk in Beziehungen. Dieses Geschenk zu machen, stellt an die ­Therapeutin Anforderungen, die sich zu Anfang und im Verlauf anders zeigen.
Dem Therapeuten wird es zu Beginn einer Behandlung nicht selbstverständlich sein, Vertrauen zu schenken, vor allem dann nicht, wenn er – wie in einer Klinik – den Patient nicht wählen kann. Was also kann er tun? Er kann Vertrauen entwickeln, und das gelingt unter anderem, wenn er aufmerksam bleibt und ein Bild ­entwerfen kann von den Möglichkeiten, die er bei ­seinem Patient sieht oder ahnt, selbst zu einem Zeitpunkt, wo dieser nichts davon weiss oder zeigen kann. Vertrauen wird also dann besonders heraus­gefordert, wenn die therapeutischen Ziele für beide Seiten nicht offen auf der Hand liegen, sondern erst miteinander gefunden werden müssen.
Im Verlaufe der Behandlung wird der Therapeut daran arbeiten, an seinem Vertrauen festhalten zu können. Das ist nicht selbstverständlich, weil die Patienten, je schwerer sie an Beziehungsabbrüchen und Trauma­tisierungen zu leiden hatten, nicht anders können als die Beziehung anzugreifen und sich eine Erfahrung auch in der therapeutischen Beziehung zu ­bestätigen, die sie so gut kennen: Die Erfahrung nämlich, dass ­Vertrauen missbraucht werden und schliesslich zerstört werden kann. Nicht zuletzt deshalb ist die Arbeit an der Gegenübertragung so wichtig, um in Therapie­krisen sich nicht von dem Patienten zu entfernen, ihn nicht für «unbehandelbar» usw. zu erklären oder gar die Diagnose zu ändern, wenn er an den Grundfesten der therapeutischen Beziehung rüttelt.

Das Vertrauen des Patienten

Worauf vertraut ein Patient, der sich in eine Therapie begibt? Darauf lassen sich viele Antworten finden, im Folgenden wird es nur um vier Punkte gehen: die Hoffnung durch das Geschenk des Vertrauens, die ­Utopie des Vertrauens durch Idealisierung, die ­Absicherung des Vertrauens durch Strukturen und schliesslich die Erfahrung des zerstörten und wiedergewonnenen Vertrauens im Rahmen eines therapeu­tischen Prozesses.

Hoffnung durch das Geschenk des Vertrauens

Vertrauen wird geschenkt, und dieses Geschenk, das – hoffentlich! – die Therapeutin ihrer Patientin machen kann, die Gabe des Vertrauens, bewirkt Vertrauen. Die Reziprozität von Vertrauen wurde bereits angesprochen. «Ich vertraue dem, der mir vertraut.»
Das Angebot einer Therapie, zumal einer Psychotherapie in der eigenen Praxis, nach einem Vorgespräch, wenn die Therapeutin ihre Patientin wählt und annimmt, ist mit dieser Gabe des Vertrauens verbunden. Wieviel schwerer ist es, dass die Patientin im geschlossenen Bereich einer Akutstation dieses Vertrauen ­spüren und erwidern kann! Und doch ist es gerade dort ­notwendig, aber auch möglich, Vertrauen zu schaffen. Wenn die Patientin unter den Bedingungen eines fürsorgerischen Freiheitsentzugs aufgenommen worden ist und dennoch so viel Freiheit wie nur möglich erhält, dann wird sie unter Umständen dieses Vertrauen erwidern können – allerdings immer wieder auch nicht, und es gehört zur gelebten und gut erwogenen Verantwortung der Therapeuten einer psychiatrischen Klinik, dieses Scheitern in Kauf zu nehmen.

Utopie des Vertrauens durch Idealisierung

Nicht nur weil die Therapeutin ihr Vertrauen ent­gegenbringt, kann die Patientin Vertrauen erwidern. Sie selbst kann auch gerade und möglicherweise nur in die Therapeutin Vertrauen investieren, ohne selbst recht zu wissen, woher sie es nimmt.
Das gesellschaftliche Bild vom Arzt ist abgenutzt, es beschrieb vielleicht noch zu Schnitzlers und Ibsens Zeiten den kundigen, privilegierten und väterlich-­familiären Meister der ­Gesundheit. Aber auch wenn das Klischee vom Arzt sich zur Idealisierung nicht mehr eignet, so kann doch Idealisierung ein wichtiger Anfangsgrund von Vertrauen werden, etwa wenn die Patientin in die ­Therapeutin eine Hoffnung legt, die für sie sonst überall erloschen ist, weil sie eine idea­lisierte ­Elternimago auf die Therapeutin projiziert, die so gar nicht ihrer ­Erfahrungs-, um so mehr aber ihrer Wunsch­welt entspringt. So kann Vertrauen gleichsam kontrafaktisch geschenkt werden und dann thera­peutische Kraft ­entfalten. Wie jede Idealisierung wird auch sie über kurz oder lang korrigiert werden müssen, aber vielleicht sind in der Zwischenzeit Kristallisa­tionskerne für Vertrauen in der Gegenwartsbeziehung ent­standen, welche die therapeutische Arbeit weitertragen können.

Absicherung des Vertrauens durch Strukturen

Vertrauen kann in lähmender, aber auch in frucht­barer Weise abgesichert werden. Strukturen der the­rapeutischen Versorgung können Sicherheit gerade da bieten, wo sie nicht in den Beziehungen erlebt ­werden kann. Traumatisierten Menschen gewährt das stabile, überschaubare, transparente und verlässliche Setting Halt, das sie vor verunsichernden und poten­tiell retraumatisierenden Erfahrungen schützt. Für viele chronisch psychisch kranke Menschen ist die ­Institution einer Klinikambulanz unter Umständen wichtiger als die Person, die gerade als Therapeut zur Verfügung steht. Die Person verschwindet wieder, der Assistenzarzt wechselt seine Stelle, der Oberarzt verlässt die Klinik und eröffnet woanders eine Praxis, aber die Institution bleibt – soweit dies absehbar ist – bestehen. Sie wird darum unter Umständen als vertrauenswürdiger als die einzelne Person erlebt.

Zyklen von zerstörtem und wiedergewonnenem Vertrauen im Rahmen eines therapeutischen Prozesses

Vertrauen ist nicht gegeben, sondern aufgegeben. Das gilt auch und besonders in der länger andauernden Psychotherapie. Gerade die längerfristigen therapeu­tischen Beziehungen sind von Vertrauensverlust bedroht. Nur für das oberflächliche Hören klingt diese Aussage paradox. Je persönlicher, je intensiver Beziehungen werden, um so mehr werden sie durch Über­tragungsfaktoren geprägt. War am Anfang der Therapie die Beziehung noch in dem Masse unpersönlich, dass das tiefe Misstrauen, das die zwischenmensch­lichen Erfahrungen in der Lebensgeschichte des Pa­tienten durchsetzt hatte, auf Abstand gehalten werden konnte, so ist dies nicht mehr möglich, wenn die ­the­rapeutische Beziehung sich vertieft und daher die ­bekannten Zweifel oder destruktiven Gefühle in sie Eingang finden. Dann wird auch in der Behandlung das Vertrauen angegriffen, und nur wenn es diese Angriffe übersteht, kann die Therapie überleben. Das wird nicht nur einmal, sondern immer neu der Fall sein.
Vertrauen wird, wie gesagt, durch Enttäuschungen ­gestärkt, durch die es hindurchgegangen ist. Für the­rapeutische Beziehungen gilt gleichermassen: Nur ­Ver­trauen, das in ihnen in Frage gestellt wird, das ­vielleicht sogar zerstört wird und das dennoch wieder­gefunden werden kann, trägt bei zur Möglichkeit, Vertrauen, wenn nicht zu besitzen, so doch wiederfinden zu können.

Zusammenfassung der Merkmale des Ver­trauens 
in therapeutischen Beziehungen

– Vertrauen ist eine Gabe, die sich Therapeutin und Patientin wechselseitig machen.
– Vertrauen in therapeutischen Beziehungen ist Aufgabe. Es wird nicht vorausgesetzt, sondern durch Krisen seiner Infrage­stellung oder Zerstörung hindurch erarbeitet.
– Vertrauen lässt sich durch ein verlässliches therapeutisches Setting stützen, aber nicht absichern, es sei denn durch die gemeinsame Reflexion auf sein Scheitern.
– Vertrauen eröffnet dem therapeutischen Gespräch kreative Spielräume, in denen Neues entstehen kann.
No financial support and no other potential conflict of interest ­relevant to this article was reported.
Correspondence:
Prof. Dr. med.
Joachim Küchenhoff
Cantonal Psychiatric
Hospital
Bienentalstr. 7
CH-4410 Liestal
Joachim.Kuechenhoff[at]unibas.ch
 1 Pfister-Ammende M. Psychohygiene und Psychotherapie
bei der Flüchtlingsbetreuung. Die Psychohygiene. 1949.217–30.
 2 Frevert U, Hrsg.Vertrauen. Historische Annäherungen. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht; 2003.
 3 Isaacs KS, Alexander JM, Haggard EA. Faith, trust and gullibility. Int J Psycho-Anal. 1963;44:461–9.
 4 Frevert U. Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne. ­München: C. H. Beck; 2013.
 5 Luhmann N. Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart: UTB; 2000.
 6 Hartmann M. Praxis des Vertrauens. Frankfurt: Suhrkamp; 2011.
 7 Weigert E. Einsamkeit und Vertrauen. Psyche – Z Psychoanal. 1906;14:538–51.
 8 Seemann-de Boor U. Buchbesprechung zu: Loosli-Usteri, ­Marguerite: Die Angst des Kindes. Eine psychologische und ­pädagogische Studie. Psyche – Z Psychoanal 1950;3:931–5.
 9 Erikson EH. Identity and the Life Cycle. New York: ­International Universities Press; 1959. (dt: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 1966)
10 Kast V. Der Teufel mit den drei goldenen Haaren. Vom Vertrauen in das eigene Schicksal. Zürich: Kreuz; 1989.
11 Fonagy P, Luyten P. Die entwicklungspsychologischen ­Wurzeln der Borderline-Persönlichkeitsstörung in Kindheit und Ado­leszenz: Ein Forschungsbericht unter dem Blickwinkel der Mentalisierungstheorie. Psyche – Z Psychoanal. 2011;65:900–52.
12 Dalferth J. Selbstlose Leidenschaften. Tübingen: Mohr Siebeck; 2013.
13 Ricoeur P. Das Selbst als ein anderer. München: Fink; 2005.
14 Fachinelli E. Der stehende Pfeil. Drei Versuche, die Zeit ­anzuhalten. Berlin: Wagenbach; 1981.
15 Warsitz RP, Küchenhoff J. Psychoanalyse als Erkenntnistheorie. Stuttgart: Kohlhammer; 2015.