Fragen der Selbstreflexion

Zu guter Letzt
Ausgabe
2018/16
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06631
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(16):532

Affiliations
Professorin für Ältere deutsche Literatur, Universität Zürich, Visiting Professor, Indiana University, Bloomington, CEO Bloomlight Productions.

Publiziert am 18.04.2018

Ich lese gerne Interviews mit Schriftstellern. Was bringen sie in die Welt? Welche Kampfstrategien nutzen sie? Wie halten sie sich seelisch fit? Kluge Fragen zielen stets über die Befragten hinaus und sagen etwas über ihre Zeit, zum Beispiel in der New York Times Book Review:“Who did most to flip gender scripts in your life?” oder auch: “Which skills were not considered cool when and where you grew up?”
Widerstandskraft wird oft genannt – sie steht heute hoch im Kurs, auch wenn man selten hört, dass ein Preis dafür zu zahlen ist (gegen den Strom schwimmen ist immer noch das beste Training für die Muskeln der Resilienz) – und auch Selbstreflexion (sie ist untrennbar mit Ausdruckslust verbunden). Wird sie nicht mit Selbstverliebtheit verwechselt, öffnet sie sich auch für Kreativität.
Selbstreflexion ist informiertes Nachdenken über die conditio humana. Die (praktisch tätigen!) Ärzte, deren Namen in der Weltliteratur fest verankert sind, Georg Büchner, Friedrich Schiller, Gottfried Benn, Alfred Döblin und viele mehr hatten keine Angst, zwei Hüte zu tragen, den der humanistischen Tradition, die den guten Arzt in der Vormoderne ausmachte, und den des heute dominanten naturwissenschaftlich-medizinischen Wissens. Ihre Theaterstücke, Romane, Gedichte und Abhandlungen sind literarische Reflexionen des menschlichen Lebens.
Im Windschatten der Medical Humanities gibt es heute (wieder) eine Medizin, die mit narrativen, essayistischen oder auch – wie ich jüngst in der Ausstellung «Sick!» im Medizinhistorischen Museum der Berliner Charité sah – mit grafischen Mitteln die klinische Praxis reflektiert und neben begriffsscharfem Argumentieren auch der Ausdrucks- und Spiellust Raum gibt (bekanntlich hielt ein Arzt das schönste Plädoyer für das Spiel, in Schillers Worten: «Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt»).
Selbstreflexives Schreiben wird im Medizinstudium an der Universität Zürich früh gefördert, nun auch mit einem Essaywettbewerb (in der Ausgabe vom 11. Juli wird der Siegertext von Selina Steiger abgedruckt, die am 7. März 2018 den von Nikola Biller-Andorno erstmals vergebenen Premio Pusterla Junior gewann). Narration und Reflexion wären auch in Klinik und Berufspraxis unterstützenswert. Wer erzählerisch in die Haut einer andern Figur zu schlüpfen vermag, ist auch in seiner eigenen mehr zuhause, das eigene Ich-Sein erscheint tiefer und vielschichtiger, weil darin die «zwischen allen Menschen bestehende Verwandtschaft» wirkt (Michel de Montaigne in seinen Essais, ausgerechnet im Kapitel über Menschenfresser).
Aus meiner eigenen Praxis als Professorin für Literatur und Creative Writing weiss ich: Selbstreflexion mobilisiert Kräfte für ein selbstbestimmtes Leben und für das Mitempfinden für den Andern; dass davon die Arzt-Patienten-Beziehung profitieren würde, deren Asymmetrie Brida von Castelberg 2013 diagnostiziert hat, liegt auf der Hand. Wer sich auf sich selbst zurückbeugt (das ist die Wortbedeutung von Selbstreflexion), nimmt gleichzeitig Anfang und Ende in den Blick und macht einen wichtigen Schritt zur Forderung, die als Titel über einem der Texte steht, der es auf die Shortlist des Essaywettbewerbs schaffte: «Nicht dem Leben mehr Tage geben, sondern den Tagen mehr Leben.»
Und wie macht man das als gesunder Mensch mitten im Leben? Der amerikanische Autor Kurt Vonnegut schrieb das Rezept gegen Ende seines Lebens auf, in einem Brief an eine High School in New York City, die ihn zu einer Lesung eingeladen hatte:
«I thank you for your friendly letters. You sure know how to cheer up a really old geezer (84) in his sunset years. I don’t make public appearances anymore ­because I now resemble nothing so much as an ­iguana.
What I had to say to you, moreover, would not take long, to wit: Practice any art, music, singing, danc­ing, acting, drawing, painting, sculpting, poetry, fiction, essays, reportage, no matter how well or badly, not to get money and fame, but to experience be­coming, to find out what’s inside you, to make your soul grow.» (5.11.2006)
Er verabschiedete sich mit God bless you all und zeichnete am Ende ein Selbstporträt.