Neuer Versorgungsatlas verfügbar

Regionale Variabilität von stationären Behandlungen in der Schweiz

FMH
Ausgabe
2018/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06333
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(03):40-44

Affiliations
Alle Autoren vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern ausser Marcel Widmer vom Schweizerischen Gesundheitsobservatorium Obsan

Publiziert am 17.01.2018

Der im Internet frei zugängliche Versorgungsatlas (www.versorgungsatlas.ch) gibt erstmals einen systematischen Überblick über die regionalen Unterschiede in der stationären Behandlung in der Schweiz. Der vom Berner Institut für Sozial- und Präventivmedizin und dem Obsan entwickelte Atlas bildet gegenwärtig rund 30  der häufigsten stationären Behandlungen in Schweizer Akutspitälern ab und ermöglicht so die Identifikation von Behandlungen mit grossen regionalen Unterschieden. Dies bildet die Grundlage, um anschliessend mögliche Gründe für die Unterschiede in den Regionen zu erkennen und eingehender zu analysieren.
Die Beschreibung regionaler Unterschiede in der Rate von medizinischen Behandlungen oder chirurgischen Eingriffen ist ein nützliches Element, um sich ein Bild über das Funktionieren eines nationalen Gesundheitssystems zu machen. Ungerechtfertigte (unwarranted) geographische Unterschiede beobachten wir bei Variationen in der medizinischen Praxis, die nicht auf die Krankheitslast einer Region, den medizinischen Bedarf oder die Präferenzen der Patienten zurückzuführen sind. Diese Variationen sind vielmehr Ausdruck einer unterschiedlichen medizinischen Praxis, Faktoren auf Ebene des Spitals (Infrastruktur, Erreichbarkeit u.Ä.) oder auf Ebene des Gesundheitssystems insgesamt (Tarifierung, alternative Angebote im ambulanten Bereich, gesetzliche Bestimmungen etc.) sowie einer Kombination dieser möglichen Ursachen.

Medizinische Statistik der Kranken­häuser

Datenquelle für die Erstellung des Versorgungsatlas sind die vom Bundesamt für Statistik (BFS) erhobene medizinische Statistik der Krankenhäuser, welche jedes Jahr die Daten aller Hospitalisierungen in den schweizerischen Krankenhäusern erfasst. Es werden sowohl soziodemographische Informationen der Patienten wie Alter, Geschlecht, Wohnregion als auch administrative Daten wie Versicherungsart oder Aufenthaltsort vor der Hospitalisierung und medizinische Informationen wie Diagnosen und Behandlungen erhoben. Für die regionale Beschreibung wurden aufgrund der Wohnregion der Patienten und der Standortregion der Spitäler behandlungsspezifische Spital-Versorgungsregionen gebildet. Zudem wurden alle Auswertungen auch nach Wohnkanton der Patienten durchgeführt. Es wurden nur Spitalbehandlungen von Personen mit Wohnsitz in der Schweiz berücksichtigt. Die Klassifizierung der Diagnosen erfolgt durch die Verwendung der ICD-10-Codes (International Classification of ­Diseases Version 10) und die Klassifikation der Behandlung durch die Schweizerische Operationsklassifikation (CHOP).
Frühere Arbeiten zeigten mit der Methode kleinräumiger geographischer Analysen, dass die Häufigkeit von Hospitalisationen für orthopädische Operationen stark zwischen Versorgungsregionen der Schweiz variiert [1–-4]. Für viele andere medizinische Eingriffe in der Schweiz fehlten bisher detaillierte Informationen.
Eine umfassendere Beschreibung von geographischen Mustern der Inanspruchnahme von Gesundheits­leistungen wird aber benötigt, um die Zukunft unseres Gesundheitswesens evidenzgestützt planen zu können und Hinweise auf mögliche Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen zu erhalten. Das Berner Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) und das Gesundheitsobservatorium Obsan haben gemeinsam den Schweizer Atlas der Gesundheitsversorgung entwickelt. Das Projekt ist von der Bangerter-Stiftung für Versorgungsforschung und vom Obsan finanziert worden. Dieser Atlas macht hier einen ersten Schritt der Systematisierung, ist transparent im Internet verfügbar (http://www.versorgungsatlas.ch/) und beschreibt momentan etwa 30 stationäre Behandlungen. Während einige Bereiche wie Orthopädie oder Kardiologie bereits gut abgedeckt sind, bestehen in anderen Bereichen noch grosse Lücken. Mit Hilfe des Versorgungs­atlas können Behandlungen mit grossen geographischen Unterschieden identifiziert werden. Erst wenn diese bestimmt sind, lassen sich in einem zweiten Schritt anhand von vertieften Analysen Erklärungs­ansätze prüfen.

Methodische Vorgehensweise

Datengrundlage für den Versorgungsatlas ist die medizinische Statistik der Krankenhäuser, die Angaben zu stationär hospitalisierten Personen aller Schweizer Spitäler einschliesst und durch das Bundesamt für ­Statistik national zusammengefasst wird. Dieser Datensatz enthält Informationen zu Wohnort, Diagnosen (ICD-10-Codes) und Behandlungen (CHOP-Codes) aller in der Schweiz stationär behandelten Patienten. Für eine regionale Beschreibung sind weitere Daten der Krankenhausstatistik (Spitalstandort, Spitaltyp) und der Bevölkerung und der Haushalte (Populations­daten) nötig. Diese anonymen Daten werden zur Berechnung von regionalen Hospitalisationsraten für verschiedene medizinische Interventionen mittels der Methode der «Small Area Analysis» verwendet, bei der interventionsspezifische Spitalregionen gebildet und in der Analyse verwendet werden [1]. Die Spitalregionen werden so konstruiert, dass ein Grossteil der in ­einer Region wohnenden Personen sich in Spitälern ­innerhalb dieser Region behandeln lassen. Natürlich können die Regionen nie so gebildet werden, dass sich 100% innerhalb behandeln lassen – ausser man erklärt die ganze Schweiz zu einer Region. Die Regionen werden jeweils spezifisch für die untersuchte Behandlung oder die Gruppe von Behandlungen gebildet. Hochspezialisierte und seltenere Eingriffe werden nur an wenigen Standorten durchgeführt. Das spiegelt sich dann in grossen Spitaleinzugsgebieten wider. Hingegen werden einfachere und häufigere Eingriffe von vielen Spitälern durchgeführt, so dass die Spitaleinzugsgebiete kleiner und zahlreicher sind. So wurden für die Behandlungen am Herz 19 Spitalregionen und für die Behand­lungen am Bewegungsapparat 61 Regionen gebildet.
Tabelle 1: Bisher im Versorgungsatlas beschriebene Behandlungen.
Innere OrganeBewegungsapparatGynäkologie und GeburtshilfeQuerschnittsbereiche
ViszeralchirurgieChirurgie des BewegungsapparatesGeburtshilfeKindermedizin
– Laparoskopische Appendektomie– Arthroskopische Meniskektomie am Knie– Sectio caesarea– Pädiatrie total
– Laparoskopische Cholezystektomie– Plastische Rekonstruktion bei Hallux valgus 
– Ösophagogastroduodenoskopie– Offene Reposition einer distalen 
Radiusfraktur mit innerer Knochenfixation
– Ösophagogastroduodenoskopie 
mit geschlossener Biopsie– Plastische Rekonstruktion der Rotatoren­manschette
– Operation einer Inguinalhernie– Totalendoprothese des Hüftgelenks
 – Totalendoprothese des Kniegelenks
GefässeWirbelsäulenchirurgie
– Crossektomie und Stripping 
der V. saphena magna– Dekompression am Spinalkanal 
(ohne gleichzeitige Diskushernie)
 – Einsetzen von totaler Diskusprothese
– Fusion (Spondylodese)
– Kyphoplastie
– Vertebroplastie
Herz
– Herzchirurgie total
– Bypass
– Herzkatheter ohne Stents
– Stents
– Koronarangioplastik mit Ballons (PTCA)
 
Urologie
– Transurethrales Entfernen einer Obstruktion 
von Ureter und Nierenbecken, 
Entfernung eines Harnsteines
– Transurethrale Exzision oder Destruktion 
von Harnblasengewebe
– Transurethrale Prostatektomie
Die Behandlungsraten pro Region wurden zusätzlich alters- und geschlechtsstandardisiert. Dabei wird berücksichtigt, dass Regionen unterschiedliche demographische Zusammensetzungen bezüglich Alter und Geschlecht haben können. Das ermöglicht den Vergleich zwischen den Regionen und über die Zeit. Idealerweise würde man zusätzlich für Unterschiede im Gesundheitszustand der Bevölkerung in den Regionen standardisieren. Dies ist aber leider nicht möglich, weil dazu keine verlässlichen regionalen Daten vorliegen.
Neben den standardisierten Behandlungsraten enthält der Versorgungsatlas für jede beschriebene Behandlung auch Informationen zur Gesamtvariation und zur systematischen Komponente der Variation (SCV – systematic component of variation) der Raten über die Regionen hinweg. Die Gesamtvariation wurde in zwei Schritten berechnet. Zuerst wurde für jede Region das Verhältnis der Anzahl der beobachteten Fälle zur Anzahl der erwarteten Fälle berechnet, so als würden in der Region die gesamtschweizerischen altersspezifischen Raten für Männer und Frauen vorliegen. In einem zweiten Schritt wurde die Variabilität des Logarithmus dieses Verhältnisses über die Regionen berechnet.
Zusätzlich zur Gesamtvariation wurde dann berechnet, welche Variation über rein zufällige Schwan­kungen in den regionalen standardisierten Behandlungsraten hinausgeht. Dazu wurde die systematische Komponente der Variation (SCV) gemäss der Arbeit von McPherson berechnet [5]. McPherson schlägt folgende Interpretation dieses SCV-Wertes vor: Ein SCV-Wert kleiner als 3 weist auf eine niedrige Variabilität der regionalen Behandlungsraten hin. Ein SCV-Wert grösser 3 deutet darauf hin, dass die Variation vermutlich mehrheitlich durch Unterschiede in der Ausübung der medizinischen Praxis entstand. Bei einer SCV zwischen 5.4 und 10 bestehen grosse Unterschiede unter den Regionen, und bei einer SCV grösser als 10 ist von sehr grossen Unterschieden bei der medizinischen Praxis zwischen den Regionen auszugehen, die schwierig zu erklären sind.

Konkrete Beispiele

Kaiserschnittrate

Im Versorgungsforschungsatlas wurden anhand der CHOP-Codes 741X1, 741X2, 740, 741 und 742 Kaiserschnitte identifiziert. Von 2013 bis 2015 stieg die Anzahl an Kaiserschnitten schweizweit leicht von 26 943 auf 27 780 an. Die standardisierte Rate (pro 1000 erwachsene Frauen im gebärfähigen Alter [18–50 Jahre]) stieg entsprechend auch leicht von 14.49 auf 14.84 an. Die Gesamtvariation 2015 fiel mit 2.29 gering aus, ebenso die SCV mit 1.91, was eine geringe regionale Variabilität ist. Idealerweise würde man für die Betrachtung der Kaiser­schnittraten auch die regionale Variabilität der Geburtenraten mitberücksichtigen.
Abbildung 1: Kaiserschnittrate (pro 1000 18–50-jährige Einwohnerinnen) nach Regionen, 2015.

Totalendoprothese des Hüftgelenks

Die Totalendoprothese des Hüftgelenks wird mit dem CHOP-Code 8151 gekennzeichnet. Die Gesamtzahl der durchgeführten Eingriffe stieg zwischen 2013 und 2015 von 18 387 auf 19 719 an. Die Gesamtvariation 2015 war mit 2.07 eher gering, und die SCV war mit 1.58 ebenfalls klein, was darauf hinweisen könnte, dass schweizweit der Bedarf und die Indikation für diesen Eingriff relativ einheitlich sind.
Abbildung 2: Rate (pro 1000 Einw.) von Eingriffen mit einer Totalendoprothese des Hüftgelenks, 2015.

Arthroskopische Meniskektomie am Knie

Die arthroskopische Meniskektomie am Knie wurde über die zwei CHOP-Codes 806X10 und 806X11 identi­fiziert. Hierbei handelt es sich nur um die stationär durchgeführten Eingriffe. Im Gegensatz zu den anderen zwei Beispielen ist die Anzahl dieses Eingriffes von 2013 (22 122) bis 2015 (20 896) leicht zurückgegangen. Dementsprechend reduzierte sich auch die standardisierte Rate von 3.32 auf 3.06. Zwar ging auch die Gesamtvariation zurück, ist aber mit 20.93 im Jahr 2015 recht hoch, ebenso wie der SCV-Wert mit 20.47. Dies spricht für eine sehr grosse Variation. Bei diesem Eingriff ist es allerdings schwierig, diese doch recht grosse Variabilität zu interpretieren, da dieser Eingriff auch ambulant recht häufig durchgeführt wird. Die hohe Variabilität könnte also die unterschiedlichen Entscheidungen in den jeweiligen Regionen widerspiegeln, ob dieser Eingriff stationär oder ambulant durchgeführt wird. Dieses Beispiel illustriert auch eine der Schwächen des zurzeit vorliegenden Versorgungsatlas: nämlich, dass nur stationär durchgeführte Behandlungen/Eingriffe beschrieben werden können, wenn man sich auf die Daten der Spitalstatistik abstützt. Seit Ende 2017 liegen nun auch die Daten zu den ambulanten Behandlungen im Spital vor, so dass die Analysen dieser Eingriffe zukünftig mitberücksichtigt werden können.
Abbildung 3: Rate (pro 1000 Einw.) einer arthroskopischen Meniskektomie, 2015 (nur stationär).

Ausblick

In einem ersten Schritt sollen die Angaben des Ver­sorgungsatlas nicht nur in Deutsch, sondern auch in Französisch vorliegen. Weiter sollen im Dialog mit Fach­experten Kommentare und Interpretationen der festgestellten Variation erarbeitet werden. Der Atlas ist als eine Dienstleistung für verschiedene Stakeholders (Bund, Kantone, Forscher etc.) aufgebaut worden und soll auch als Datengrundlage für weitere vertiefte ­Auswertungen dienen. Eine Ausweitung auf weitere Behandlungen und Eingriffe ist dann in einem wei­teren Schritt vorgesehen, etwa auch auf ambulante ­Behandlungen im Spital. Wir nehmen Vorschläge, ­welche Eingrif­fe als Nächstes beschrieben werden sollten, gerne unter diesen Kontaktadressen entgegen: marcel.­widmer[at]bfs.admin.ch, adrian.spoerri[at]ispm.unibe.ch.

Dialoggruppe Forschungsschwerpunkt Versorgungs­forschung

Versorgungsforschung ist für die Ärzteschaft ein wichtiger und wegweisender Wissenschaftsbereich. In Zeiten des Umbruchs und der Veränderungen im Gesundheitswesen (neue Finanzierungsmodelle, demographische Veränderungen, steigende Gesundheitskosten usw.) ist eine akademisch verankerte Forschung im Bereich der ärztlichen Versorgung zwingend nötig. Dies hat auch der Nationalfonds erkannt und 2015 mit dem NFP 74 «Gesundheitsversorgung» ein nationales Schwerpunktprogramm zur Versorgungsforschung lanciert (http://www.nfp74.ch/de). Um wissenschaftliche, von Partikulärinteressen unabhängige Grundlagen schaffen zu können, unterstützen die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH), die Konferenz der Kantonalen Ärztegesellschaften (KKA) sowie NewIndex gemeinsam den Forschungsschwerpunkt Versorgungsforschung am ISPM Bern. Eine Dialoggruppe dient als Informations- und Austauschplattform: Vertreter der Organisationen und der Forschungsgruppen diskutieren regelmässig die laufenden und geplanten Arbeiten im Bereich der Versorgungsforschung. Die Dialoggruppe verfolgt zudem das Ziel, die Akzeptanz und Sensibilisierung innerhalb der Ärzteschaft für diesen Wissenschaftsbereich zu fördern. Die Dialoggruppe steht ihrer Basis offen für Themen-, Diskussionsvorschläge sowie für weitere Fragen und Informationen. Die Abteilung Daten, Demographie und Qualität DDQ der FMH übernimmt die Koordination der Dialoggruppe und steht für weitere Informationen und Auskünfte gerne zur Verfügung: ddq[at]fmh.ch oder Tel. 031 359 11 11.
Marcel Zwahlen
Finkenhubelweg 11
CH-3012 Bern
marcel.zwahlen[at]ispm.unibe.ch