Der wachsende Nutzen in der Medizin: Was erhält die Bevölkerung für die Gesundheitskosten?

Endoprothesen kosten viel – und nützen noch mehr

FMH
Ausgabe
2017/33
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05860
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(33):1024–1025

Affiliations
Dr. med., Facharzt Orthopädie und Traumatologie, Mitglied FMH, Präsident fmCh

Publiziert am 16.08.2017

Über chirurgische Eingriffe zum Einsetzen von Knie- oder Hüftgelenksprothesen wird oftmals negativ berichtet, vor allem die mit der Zunahme dieser Behandlungen verbundenen Kosten werden kritisiert. Patienten aller Altersgruppen profitieren jedoch stark von diesen Eingriffen, weil sie ihnen ein schmerzfreies, aktives Leben ermöglichen und Pflegebedürftigkeit verhindern, was letztlich auch wieder Kosten spart.
Die Haltung der Öffentlichkeit gegenüber der chirurgischen und invasiven Medizin ist häufig zwiespältig, ist sie doch – wie auch die Dachorganisation der chirurgisch und invasiv tätigen Ärzte FMCH festhält – «effektvoll und gefährlich». Während die positiven Effekte der Behandlungen nur auf ein recht überschaubares mediales Interesse stossen, finden die Gefahren oder gar Kunstfehler deutlich mehr Aufmerksamkeit. Neben den Chancen und Risiken rücken Medien und Politiker aber vor allem die Kosten in den Vordergrund: Erkrankungen des Bewegungsapparates sind für 15% der Spitalaufenthalte verantwortlich und bilden damit den häufigsten Hospitalisierungsgrund [1]. Besonders weil die Implantation von Knie- und Hüftprothesen in den letzten Jahren stark zugenommen hat [1], wird gerne über voreilige invasive Behandlungen als Ursache steigender Gesundheitsausgaben spekuliert.

Der individuelle Nutzen, im Alter gesund zu sein, ist auch gesellschaftlich ein Gewinn

Wer jedoch die behandelten Patientinnen und Patienten näher betrachtet, dem zeigen sich viele andere Gründe für die Zunahme der Behandlungen – und ein grosser zusätzlicher Nutzen, der damit entsteht. So wächst mit der Alterung der Bevölkerung nicht nur die für Endoprothesen relevanteste Patientengruppe: Alte Menschen sind auch zunehmend aktiver, so dass Knie- und Hüftprobleme für sie stärkere Einschränkungen bedeuten und mehr Operationen nachgefragt werden. Da gleichzeitig durch den medizinischen Fortschritt die Operationsrisiken abnehmen, kommen immer mehr Patienten für eine Operation in Frage, die noch vor wenigen Jahren nicht hätten operiert werden können. Das so erreichte aktivere Leben ohne Schmerzmittel verbessert die Lebensqualität der Betroffenen deutlich und wirkt sich positiv auf ihre allgemeine körperliche und psychische Gesundheit aus.
Auf der WHO-Liste der «Lebenserwartung bei guter Gesundheit» [2] stand die Schweiz im Jahre 2007 mit durchschnittlich 73,3 Jahren an dritter Stelle hinter Japan und Schweden, vor unseren Nachbarn Italien, Frankreich, Österreich und Deutschland, aber auch vor Holland, das uns immer als Beispiel vorgehalten wird, auch vor England mit dem vielgepriesenen National Health Service; abgeschlagen die USA mit durchschnittlich 69,3 Jahren. 2012 betrug die Lebenserwartung bei guter Gesundheit in der Schweiz bei Männern 77,5 und bei Frauen 77,9 Jahre [3].
Dass dieser individuelle Nutzen – im Alter gesund zu sein – auch für die Gesellschaft effektvoll ist, wird hierzulande weitgehend ausgeblendet. Eine amerikanische Studie zeigt, dass dank weniger Pflegheim-Einweisungen und weniger Medikamente ein jährlicher Nutzen pro implantierte Hüft-Prothese von 50 000 US-Dollar entsteht [4]. Darin nicht berücksichtigt ist die Reduktion der Arbeitsunfähigkeiten.

Ein neues Hüft- oder Kniegelenk kann hohe Pflege- und Invaliditätskosten sparen

Da die Versorgungsforschung in der Schweiz – im Gegensatz zum Ausland [5–8] – ein kümmerliches Dasein fristet, liegen uns leider keine Schweizer Daten über den mit Endoprothesen erzielten Nutzen vor. Aber betrachten wir die Relation zwischen Kosten und Nutzen anhand zweier illustrierender Fälle:
Frau W. lebte mit ihrer 80-jährigen Tochter zusammen in einem Haus in einer Vorortsgemeinde: Die Wohnung auf zwei Etagen, enges Treppenhaus, kein Lift. Die 102-jährige pflegte den Garten, kochte und ging spazieren. Wegen plötzlicher starker Knie-Schmerzen konnte sie das Haus nicht mehr verlassen. Das Röntgenbild zeigte eine Knochen-Nekrose der Femur-Kondyle, also ein Absterben der knöchernen Gelenkfortsätze des Oberschenkelknochens. Soll man in diesem Alter noch operieren? Der Hausarzt, der Anästhesist, der Kardiologe meinten ja. Man setzte eine Knieprothese ein. Nach 6 Wochen war Frau W. wieder zu Hause, wo sie fünf Jahre später an einer Lungenentzündung verstarb.
Der Spitalaufenthalt, die Operation, das Implantat, die Anästhesie, der Konsiliar-Kardiologe sowie der vier­wöchige Reha-Aufenthalt kosteten insgesamt 60 000 Franken. Eine Einweisung ins öffentliche Pflegeheim der Gemeinde hätte bei einer mittleren Pflege­bedürftigkeit (BESA 6) rund 300 Franken pro Tag gekostet. Davon hätten die Krankenkasse und die öffentliche Hand rund 190 CHF beigesteuert. Bei einer Aufenthaltsdauer bis zum Tod hätte dies Frau W. 200 000 Franken, die Krankenkasse und die Gemeinde 347 000 Franken gekostet. Ein Zyniker könnte fragen: Wäre sie ohne Operation nicht einfach früher gestorben? Dies wäre natürlich möglich, nur stirbt man nicht so schnell an einer Knochen-Nekrose. Bereits nach einem halben Jahr hätte das qualitativ schlechte Leben mit Gehunfähigkeit und Schmerzmitteln im Pflegheim mehr gekostet als die Variante mit der Operation.
Der zweite illustrierende Fall betrifft eine damals 25-jährige Postbotin, bei der man nach ihrer Geburt eine beidseitige Hüft-Dysplasie, also eine Fehlstellung des Hüftgelenks, verpasst hatte. Wegen fortgeschrittener Arthrose beider Hüftgelenke drohte jetzt eine Arbeitsunfähigkeit. Trotz des jugendlichen Alters entschloss man sich zur Implantation einer Hüft-Prothese beidseits, was Kosten von 80 000 CHF für beide Seiten verursachte. Die junge Frau wurde schmerzfrei geh­fähig, die Lebensqualität war unbestritten besser. Und der gesellschaftliche Nutzen? Seit 15 Jahren arbeitet sie in ihrem Beruf. Man rechne, was eine Umschulung und Wiedereingliederung oder gar eine Berentung gekostet hätte!
Zwischen diesen beiden Extrembeispielen einer sehr jungen und einer sehr alten Patientin finden wir jährlich 17 000 Menschen, die sich eine künstliche Hüfte und 13 000, die sich eine Knie-Prothese in Schweizer Spitälern einsetzen lassen [9]. All dies sind Menschen, die anschliessend wieder schmerzfrei und selbständig ihren Alltag bewältigen können, die ihrer Arbeit und sonstigen Tätigkeiten nachgehen können, die als Sportler, Touristen, Konsumenten einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen bringen. Wenn die Patientenversorgung schon unter die ökonomische Brille genommen wird, dann darf dieser den Behandlungskosten gegenüberstehende Nutzenzuwachs nicht ausgeblendet werden.

Kurzzusammenfassung

Durch die starke Zunahme von Knie- und Hüftgelenks­implantationen werden die dadurch verursachten Kosten vielfach kritisiert. Betrachtet man jedoch die wachsende Patientengruppe, die von diesen Eingriffen profitiert, zeigt sich auch ein enormer Nutzen dieser Operationen. Nicht nur die allgemeine psychische und physische Gesundheit verbessert sich klar, wenn die behandelten Personen ohne Schmerzmedikamente ein aktives Leben führen können. Zudem wird ein beachtlicher ökonomischer Nutzen erzielt, wenn Berufsunfähigkeit und Pflegebedürftigkeit vermieden oder verzögert werden. Auch bei einer 102-jährigen Patientin «lohnen» sich Behandlungskosten von 60 000 Franken sogar im ökonomischen Sinne, sobald sie ein halbes Jahr mittlere Pflegebedürftigkeit einsparen. Ungleich mehr «rentieren» teure Prothesen, wenn sie bei jungen Menschen die Arbeitsfähigkeit erhalten. Diese Gewinne verdienen in Diskussionen zu Gesundheitskosten mehr Beachtung.
Dr. med.
Josef E. Brandenberg
Facharzt Orthopädie und Traumatologie FMH
Präsident FMCH
Rebstockhalde 18
CH-6006 Luzern
josef.brandenberg[at]hin.ch
1 Bundesamt für Statistik (BFS). Gesundheitsstatistik 2014. ­Office fédéral de la statistique (OFS) Neuchâtel, 2014.
2 WHO, World Health Statistic 2007.
3 Interpharma (2017). Gesundheitswesen Schweiz. 8–9.
4 George L, Ruiz D, Sloan F (2008). The effects of total hip arthroplasty on physical functioning in the older population. ­J Am ­Geriatr Soc. Jun;56(6):1057–62.
5 Räsänen P, Paavolainen P, Sintonen H, Koivisto AM, Blom M, ­Ryynänen OP, et al. (2007). Effectiveness of hip or knee replacement surgery in terms of quality-adjusted life years and costs. Acta Orthop. Feb;78(1):108–15.
6 George LK, Hu L, Sloan FA (2014). The effects of total knee arthroplasty on physical functioning and health among the under age 65 population. Value Health. 2014 Jul;17(5):605–10.
7 Sloan FA, George LK, Hu L (2014). Productivity Improvements in Hip and Knee Surgery. Arthritis. 2014 615784.
8 Koenig L, Zhang Q, Austin MS, Demiralp B, Fehring TK, Feng C, et al. (2016). ­Estimating the Societal Benefits of THA After Accounting for Work Status and Productivity: A Markov Model Approach. Clin Orthop Relat Res. 474. 2645–54.
9 SIRIS, Swiss National Joint Registry, Report 2012–2015. 25–6.