Personalisierte Medizin vs. personalisierte Medizin

Zu guter Letzt
Ausgabe
2017/1516
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2017.05544
Schweiz Ärzteztg. 2017;98(1516):508

Affiliations
Prof. Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 12.04.2017

Die personalisierte Medizin ist ein neuer Trend, dem – so die Befürworter – unbedingt gefolgt werden sollte. Dabei geht es darum, das individuelle Profil des Patienten bis hin zur genetischen bzw. molekularen Struktur kennenzulernen, um so gezielt behandeln oder auch künftigen Erkrankungen vorbeugen zu können. Dieser Ansatz hat sich in bestimmten Bereichen als vielversprechend erwiesen. So lassen sich beispielweise durch die Ermittlung genetischer Veränderungen bei der Behandlung von Tumoren die Medikation entsprechend einstellen und unnötige, potenziell riskante Therapien vermeiden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind reale klinische Vorteile jedoch eher selten [1].
Personalisierte Medizin ist der ultimative Ausdruck des linearen Denkansatzes, der die Medizin in den letzten Jahrzehnten zu beeindruckenden Fortschritten geführt hat. Dieses Bestreben, bis auf primäre Determinismen stossen zu wollen, erscheint jedoch kaum gerechtfertigt bei den zur Zeit häufigsten Erkrankungen, wie Arteriosklerose, Diabetes oder Bluthochdruck, wo eine Vielzahl unterschiedlich aktiver Gene und das Umfeld oder persönliches Verhalten eine dominante Rolle spielen. Bislang wurde nicht bewiesen, dass die Genanalyse besser ist als eine Bestimmung der Lipide bei der Prävention von Arteriosklerose oder eine gute Familienanamnese, um multigenetische Erbkrankheiten zu eruieren. Das Erstellen genetischer Profile zur Prävention dieser Erkrankungen bei gesunden Personen ist abwegig, denn diese Profile sind ex­trem unsensibel und unspezifisch und weisen somit eine hohe Rate falsch positiver und falsch negativer Werte auf. Der Unsinn solcher genetischen Analysen wird umso evidenter angesichts der Tatsache, dass ihre Enthüllung offenkundig nichts am Verhalten ändert [2]. Sie führen nur zu unnötigen Ängsten bei den betroffenen Patienten und bereichern die Taschen der entsprechenden Labors.
Zudem ist es wichtig, zu realisieren, dass Detailkenntnisse an sich niemals ausreichen, um die Komplexität eines Individuums zu rekonstruieren. Vor diesem Hintergrund ist dieser Ansatz wohl kaum «personalisiert» zu nennen. Möglicherweise verwenden einige Autoren daher lieber den Begriff «Präzisionsmedizin».
Für den Hausarzt bedeutet der Begriff «personalisierte Medizin» etwas ganz anderes. Personalisierte Medizin steht für eine auf den Patienten zentrierte Qualitätsmedizin. Sie gründet auf der Beziehung zum Patienten und Empathie. Beides lässt sich nicht quantifizieren. Wenn wir den Patienten aber nur in seiner Ganzheit betrachten und zugrunde liegende Biomechanismen ausser Acht lassen, ist dies jedoch genauso gefährlich wie die alleinige Fixierung auf Laborwerte, wie präzise diese auch immer sein mögen.
Diese Doppelbedeutung der personalisierten Medizin erinnert mich an die Unterscheidung, die vor etwa zwanzig Jahren in Bezug auf Internisten und Allgemeinmediziner getroffen wurde, als die Idee aufkam, die Innere und die Allgemeine Medizin zusammenzuführen. Internisten waren damals karikiert als Intellektuelle mit Schlips, die vor der Therapie in linearem Ansatz alle biologischen Details des Patienten in Erfahrung bringen wollten, während die Allgemeinmediziner als einfach gestrickte Praktiker galten. Die Organisation einer gemeinsamen Generalversammlung der beiden Fachgesellschaften, um aufzuzeigen, dass diese Clichés absolut nicht der Realität entsprechen und beide im Grunde dieselbe Medizin praktizieren [3], führte zu nichts. Erst nach zwanzig Jahren frustrierender Diskussionen kam es dann (endlich!) zum heutigen Zusammenschluss. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die personalisierte Medizin im doppelten Wortsinn – also eine präzise Erfassung der Beschwerden unserer Patienten im Verbund mit der Berücksichtigung der individuellen Komplexität – eine grosse Herausforderung ist und bleibt!
hans.stalder[at]saez.ch
1 Hey SP, Kesselheim AS. Countering imprecision in precision ­medicine. Science. 2016:353;448–9.
2 Hollands GJ, French DP, Griffin SJ, Prevost AT, Sutton S, King S, Marteau TM. The impact of communicating genetic risks of dis­ease on risk-reducing health behaviour: systematic review with meta-analysis. BMJ. 2016;352:i1102.
3 Neeser M, Stalder H. Gestes et aptitudes techniques chez des ­médecins de premier recours: quelle pratique? Schweiz Ärztezeitung. 1997;127–34.